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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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Intensität warf.
    Seine Familie bewohnte eines der wenigen Steinhäuser im Dorf. Von der Eisenbahngesellschaft genau an der Stelle erbaut, an der der Weg zu den Feldern und in die südlichen Regionen über den Bahndamm vorbeiführte. Bei allen hieß es nur »das Haus des Weichenstellers«. An Sommerabenden bedeckte der Schatten des Silos das gesamte Dach und einen Teil des umliegenden Hofes: ein Gelände aus gestampftem Lehmboden, in dem ein Dutzend Hühner und drei Ferkel frei herumliefen. Außer dem Polizeiwachtmeister und dem Pfarrer hielt sonst keiner im Dorf Tiere.
    Vor der großen Dürre hatte der Vater die Schranke bedient und war dem Bahnvorsteher beim Weichenstellen zur Hand gegangen. Viermal täglich setzte er den Mechanismus in Gang, um die Holzschranke herunterzulassen, während er gleichzeitig mit einer Handglocke bimmelte. Einige Lastwagenfahrer schalteten den Motor ab, stiegen aus und drehten sich Zigaretten, während sie den Zug gemächlich in Richtung Meer vorbeirattern sahen. Das waren die Zeiten, als die Güterzüge leer anrollten und voll beladen mit Hafer, Weizen und Roggen aus dem Silo wieder ausliefen. Später kam dann die Hitze, und die Felder siechten dahin, bis sie starben. Das Korn hörte auf zu wachsen, und die Eisenbahngesellschaft ließ die Waggons auf dem Abstellgleis verrotten. Der Bahnhof wurde geschlossen und der Vorsteher an einen Posten weiter im Osten versetzt. Innerhalb eines Jahres wanderte die Hälfte der Familien ab. Nur wenige, die tiefe Bohrbrunnen besaßen und mit dem Getreide Geld gemacht hatten, sowie einige, für die zwar weder das eine noch dasandere galt, die sich aber den neuen Regeln der ausgedörrten Erde ergaben, hatten ausgeharrt. Seine Familie besaß keinen Brunnen und kein Vermögen, aber sie war geblieben.
    Unter ein paar alten Mandelbäumen machten sie Rast. Wegen der Hitze tranken sie so viel, dass sie fast ihre gesamten Wasserreserven aufbrauchten. Anders als am Vortag hatte der Junge diesmal den Eindruck, der Ziegenhirt wisse, wohin er sie führte. Einmal waren sie auf einen Stacheldrahtzaun gestoßen und an ihm entlanggelaufen, bis sie eine Lücke fanden, um auf die andere Seite zu gelangen. Sie hatten ein brachliegendes Saatfeld überquert und auf einem neuen Weg wieder verlassen, dem sie in westliche Richtung gefolgt waren. Die unverhoffte Abweichung vom nördlichen Kurs hatte den Jungen argwöhnen lassen, sie wanderten nur planlos umher und der Alte sei gar nicht auf der Suche nach Weidegrund, sondern allein darauf aus, durch die Gegend zu streifen. Was ihn betraf, so entfernten sie sich immerhin vom Dorf.
    Im ersten Dämmerlicht sahen sie die Überreste eines großen Gemäuers am Horizont auftauchen. Die Landschaft war hügelig, und während sie weiterzogen, tauchte die Ruine mal auf oder versank zwischen den verbrannten Kornfeldern. Die letzte Steigung enthüllte ihnen nach und nach die Details dessen, was sie seit langem sahen. Eine hohe mit Mörtel verputzte Steinmauer, von einer Reihe schartiger Zinnen gekrönt und durch ein nacktes Geröllfeld vom Weg getrennt. Eine einzige Wand, die dank des angebauten runden Turms noch aufrecht stand.Mehrere Reihen von Entwässerungslöchern zogen sich auf unterschiedlichen Höhen quer über die Mauer. Die Überreste einer Burg oder einer mittelalterlichen Festung, auf deren Turm jemand eine Jesusfigur angebracht hatte, die die Ebene mit zwei zusammengelegten Fingern segnete. Aus ihrem Nacken traten drei Lichtstrahlen hervor. Der Junge erkannte das Bild, das in seiner Erinnerung die Legende, die sich um die Burg rankte und die jedes Kind im Dorf schon einmal gehört hatte, aufleben ließ. Es hieß, irgendwo an einem Ort in nördlicher oder nordöstlicher Richtung befände sich eine Burg. Bewohnt würde sie von einem Mann, von einem furchteinflößenden Wächter beschützt. Tag und Nacht stünde der Mann oben auf einer Mauer mit erhobener Hand als Warnung für die Reisenden, sich seiner Burg nicht zu nähern. Manch einer erzählte auch, in Wirklichkeit zeige er keine Geste, sondern eine Waffe. Es hieß, aus seinem Kopf wüchsen Strahlen, die in allen Richtungen über die Ebene hinwegfegten. Man erzählte sich darüber hinaus von wilden Hunden und dass der Wächter Kinder fange und dem Mann bringe, damit er sie aufs Grausamste peinigte.
    Sie stiegen den sanften Abhang hinab, der zu der Burgruine führte, und blieben unterwegs stehen, um die Anlage genauer in Augenschein zu nehmen. Der Pfad führte noch etwas

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