Die Flucht: Roman (German Edition)
schwer bepackte Esel einsank. Alte Gemüsefelder, die aussahen wie Waschbretter, und vom Pfad losgetretene Kieselsteine mit scharfen Rändern. Irgendwann stand die Sonne so hoch, dass der Schatten des Esels den Jungen nicht mehr schützte. Er nestelte alle naselang an seinem Hemd, damit es gleichzeitig den Kopf und die Schultern bedeckte. Ab und zu blickte er in Richtung des Alten, um ihm seine Erschöpfung anzuzeigen, doch, immun gegen die Hitze, blieb der Mann auf Kurs, als liefe er am Ufer eines Bergsees entlang. Einmal blieb der Junge zurück, um sich seinen Turban zu richten. Der Hund verharrte schwanzwedelnd bei ihm und umkreiste den Begleiter seines Herrn wie ein neues Spielzeug. Beim Drapieren des Stoffes fuchtelte der Junge heftig herum und schnaubte vor Wut, als könnte man das Hemd auf diese Art verlängern oder den Alten mitten im Nichts einen Buchenwald auffinden lassen. Das Äußerste, was er damit erreichte, war, dass der Ziegenhirt kurz innehielt, nicht etwa, um auf ihn zu warten, sondern nur, um einen Schluck Wasser zu trinken. Kaum hatte der Junge aus der Ferne gesehen, wie der Mann sich das Gefäß zum Mund führte, ließ er den Stoff, der ihn bedeckte, los und legte einen Schritt zu, um den Alten einzuholen, bevor dieser die Flasche geleert hatte. Doch als er ihn erreichte, das Hemd vom Kopf herabhängend, setzte der Alte denKorken gerade wieder auf die Flasche. Dann pfiff er erneut zum Aufbruch.
Irgendwann, als die gleißende Sonne schier unerträglich wurde, machten sie endlich Rast. Zwei matte Erlen wiegten ihre schlaffen Blätter wenige Meter von einem Röhrichtfeld am Ufer eines vermeintlichen Tümpels. Auf der einen Seite ein dünner Streifen ausgeblichenen Dickichts, der sich wie ein Stachel von der Masse des Gestrüpps vor einem Graben abhob. Auf der anderen Seite Linien aus Pflanzenresten wie Isobaren auf dem ausgetrockneten, rissigen Grund des Teichs. Zeugnisse vom letzten Todesröcheln der Wasserquelle. Von Wellen gezogene Schmutzränder, die sich im Laufe der Verdunstung am Boden abgelagert hatten. Die glutheiße Mittagsbrise strich durchs Schilfrohr und erfüllte, wenn die Binsen sich rieben, die Umgebung mit dem zarten Geläut hölzerner Glocken. Struppige Haarbüschel, die wie Gebetsfahnen wehten. Gen Himmel gerichtete Sprüche, die anstatt Wohltaten zu verteilen, die Sonne auf den Plan zu rufen schienen, um sich mittels eines Brennglases oder eines Blitzes zu opfern.
Der Ziegenhirt führte den Esel zu den Erlen und machte sich daran, das Gepäck abzuladen. Geistesabwesend schaute der Junge zu, als ginge ihn das Ganze nichts an, wie in Trance vor Durst oder dank der unverhofften Rast. Die Pusteln in seinem Gesicht waren gerötet. Der Alte wandte sich zu ihm um, die Hände untätig am Hosenbund. Der über und über mit Staub bedeckte Junge blieb wie versteinert stehen.
»Junge.«
Die Stimme des Hirten riss ihn aus seiner Starre, und unwillkürlich wandte er den Kopf dem Mann zu. Dort stand der Alte, der die Arbeit ruhen ließ und ihm zum ersten Mal direkt ins Gesicht schaute. Er hatte tiefliegende Augen mit zwei knochigen Wölbungen als Lichtschutz, sodass die milchige Hornhaut im Schatten lag.
»Junge.«
Beim zweiten Mal setzte der Junge sich in Bewegung, um ihm zur Hand zu gehen. Er nahm die Gerätschaften entgegen, die der Alte ihm reichte, und stellte sie unter den Bäumen auf. Als sie den Esel vollständig entladen hatten, schnappte der Mann sich eine der Flaschen und drang in das Röhrichtfeld vor, indem er sich mit den Händen einen Weg bahnte. Der Junge sah, wie er zwischen den Binsen und Rohrkolben verschwand und wie die Ziegen sich der Bresche näherten, die der Hirte geschaffen hatte. Er entkorkte die vom Alten im Tragekorb zurückgelassene Flasche und kippte sie über der Büchse aus, doch kein Tropfen kam heraus. Der Junge blickte zu der Schneise, in die der Ziegenhirt verschwunden war, und verfluchte ihn, die Büchse mit beiden Händen fest umklammernd.
Er setzte sich unter einen der Bäume und ließ, an den Stamm gelehnt, seinen Blick über den Lagerplatz schweifen. Ihm fiel die Rinne ein, der Bach, in den das Dorf seine Fäkalien schüttete. Er dachte an den üblen Gestank, das dichte Röhricht, die Bittereschen und die Schilfgrasbüschel, die seinen Weg säumten. Er studierte die Beschaffenheit dieses kleinen, ausgeblichenen Gestrüpps wie ein Fossil, erhob sich und lief an dem Röhrichtfeld entlang,um die Gegend zu erkunden. Der Hund ruhte sich noch im
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