Die Flucht: Roman (German Edition)
völliger Erschöpfung sämtlicher Muskeln schlief der Junge fast augenblicklich ein. Die durchwachte Nacht, die Schläfrigkeit infolge des Weines, die schmutzigen Hände und die ummauerte Senke füllten seine letzten Gedanken, bevor er wegdämmerte.
Als er aufwachte, lag der Alte nicht mehr neben ihm. Er verließ das Lager und sah den Hirten am obersten Rand des Kraters knien. Er spähte gen Süden, beide Händewie ein Visier um die Augen gelegt, als trüge er eine Brille. Er sah ihn den schroffen Felshang herabkommen, halb geduckt, halb den Hintern über die Steine schleifend, um nicht abzurutschen. Einige Ziegen ruhten im Schatten, andere nutzten die Gelegenheit, dass niemand bei der Akazie war, und stellten sich auf die Hinterbeine, um an die Spitzen der Zweige zu gelangen.
Während der Junge sich die Beine in der Umgebung des Schattenplatzes vertrat, stellte er fest, dass der Alte, während er geschlafen hatte, einen Großteil des Pfriemgrases zu Seilen geknüpft hatte. Er hockte sich hin, um die Festigkeit der Seile zu überprüfen, und fragte sich, wozu der Alte sie wohl alle brauchte. Der Hirte kehrte von seinem Ausflug zurück und setzte sich ohne ein Wort unter die Akazie, um mit seiner Arbeit fortzufahren. Der Junge sagte ihm, er wolle sich umschauen.
»Aber bleib in der Nähe der Grube.«
»Keine Sorge.«
Noch nie hatte er sich an einem Ort wie diesem befunden. Überall verstreut längliche Schädel. Zersplitterte, ausgehöhlte Knochen wie verbrannter Riesenfenchel, alles gepflastert von Rinderzähnen, verschlissen vom pausenlosen Wiederkäuen. Er sah den Ziegenbock, den seine Nahrungssuche zu einem toten Rind geführt hatte, und dorthin ging er. Als er ihn erreichte, wurde der Bock wild und attackierte den toten Ochsen mit den Hörnern, scheuchte eine Ratte aus dem Kadaverinneren hervor. Unterhalb des Beckens hielt der Nager inne, schnupperte nervös in der Luft und huschte an seinen Fressplatz zurück.
Wieder bei dem Alten schilderte er, was er gesehen hatte. Der Mann legte seine Arbeit nieder, erhob sich und ging mit einem Knüppel und einer Decke gerüstet zu der Stelle, an der der verwesende Ochse lag. Der Junge folgte ihm, bis sie wenige Meter vor dem Tierkadaver Halt machten. Eine Weile lang beobachteten sie geduckt und schweigend, wie das Fell sich bewegte. Ein Rabe ließ sich auf den Rippen des toten Tiers nieder. Das Fell wellte sich über dem Gerippe, das aussah wie ein schmelzender Schiffsrumpf. Das Rind war von innen völlig ausgehöhlt, eine Attrappe mit einer Öffnung im Genitalbereich. Der Ziegenhirt richtete sich auf und schlug lautlos einen Bogen um den Kadaver, bis er vor dem Schädel stand. Der Rabe flog davon. Der Junge sah, wie der Alte sich den Arm vor Mund und Nase hielt. So lief er an dem ausgestreckten Kadaver entlang und legte auf der Höhe des Beckens die Decke auf die Öffnung im Fell. Dann trat er mit der Stiefelspitze gegen das Gerippe, und schon kam die Ratte aus ihrer Höhle herausgeschossen und verfing sich in der Falle. Der Alte schlug immer wieder auf die Wolldecke ein, bis das Tier sich nicht mehr regte.
Gegen Abend hatte der Ziegenhirt sein Pfriemgrasnetz fertig geknüpft. Nun suchte er sich vier dicke Äste, säuberte sie und schuf aus Ästen und Netz ein kleines Gehege. Mit Hilfe des Hundes sammelte er die Herde ein, und gemeinsam trieben sie die Tiere in den Pferch. Nachdem er alle drinnen hatte, ließ er eines nach dem anderen Wasser aus einer Schüssel trinken. Nach getaner Arbeit waren zwei Drittel der Wasserflaschen aufgebraucht. Als der Junge den Alten darauf aufmerksam machte, meinteder, er solle unbesorgt sein. Am Abend würden sie Milch trinken und sich am nächsten Tag auf die Suche nach einer neuen Wasserstelle begeben.
Er holte den Schemel und stellte ihn an der einzigen Ecke des Geheges auf, die sich öffnen ließ. Dann fixierte er den Eimer mit den Stäben am Boden und wandte sich dem Jungen zu.
»Du wirst mir dabei helfen.«
»Das habe ich noch nie gemacht.«
»Du stellst dich einfach an die Zaunöffnung und ziehst die Ziegen heraus, sobald ich es dir sage.«
Nach wenigen Minuten waren alle Tiere gemolken, und der Junge wunderte sich, wie wenig Milch zusammenkam. Der Alte erklärte ihm, die Tiere seien wegen der Hitze, der Wasserknappheit und der verdorrten Nahrung zu entkräftet.
Als es dunkelte, häutete der Alte die Ratte, öffnete sie mit einem aus Stöcken gefertigten Kreuzkopf und entfachte ein kleines Feuer. Da der Junge nichts
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