Die Flucht: Roman (German Edition)
spärlichen Schatten der Erlen aus. Während der Junge über den Grund des ausgetrockneten Teiches stapfte, drängte es ihn, die Hosenbeine aufzukrempeln, damit sie nicht nass wurden. Seine Sehnsucht nach frischem, sauberem Wasser war ihm weniger bewusst als seinem Körper. Unterhalb einer Tamariske stieß er auf Spuren von Feuchtigkeit. Eine Vielzahl kleiner Rinnsale, eine Art Miniaturdelta, das in Richtung des nicht vorhandenen Teichs abfloss. Wasserläufe jenseits des schattigen Schilfs, vereitelt durch die Sonne und die dürstende Erde. Vergebliche Mühsal, in die weichen Sandschichten am Grund versickert.
Am Rastplatz hatte der Ziegenhirt bereits die Herde versammelt, trieb sie gerade durch die Schneise, die er in das Schilfdickicht gezogen hatte, hinein in das Röhrichtfeld. Drinnen verharrten die Ziegen einen Moment lang, bevor sie die Köpfe zu Boden senkten, bis der Alte beschloss, sie hätten genug, und sie mit einem Hieb in die Flanken vertrieb. Wie bei einem Schwarm Fische drangen die nachfolgenden Tiere auf den frei gewordenen Platz vor. Als der Hirte den Jungen kommen sah, zeigte er mit dem Finger auf die Erle, unter der der Esel weidete. Neben dem Stamm lagen die beiden Flaschen. Der Junge ging hin, um sie zu schütteln. Dann entkorkte er eine, füllte seine Blechbüchse und trank. Das Wasser schmeckte schlammig. Er spürte, wie er Sand schluckte und seine Zähne knirschten, doch das kümmerte ihn nicht.
Sie aßen, die Rücken an die Erlen gelehnt, umringt von den Ziegen, dem Esel und dem Hund, den es unterdie Bäume zog, als drohte jenseits des Schattens ein Abgrund. Als sie fertig waren, erhob sich der Alte und entfernte sich ein paar Meter, um vom Lagerplatz abgewandt Wasser zu lassen. Auf dem Rückweg scherte er zur Seite aus, und von seinem Platz im Schatten sah der Junge, wie er am Boden herumhantierte. Er dachte, der Mann schnüre sich vielleicht einen Stiefel. Doch dann kehrte der Alte mit einem Aloeblatt in der Hand zu den Bäumen zurück. Er ließ sich nieder, wie er vorher gesessen hatte, schälte mit einem grifflosen Messer den breitesten Teil des Blattes ab und reichte es dem Jungen, damit dieser sich damit seine Verbrennungen im Gesicht einreiben konnte.
Während der Ziegenhirte einen Haken aus Holz für den Sattelgurt des Esels schnitzte, nutzte der Junge die Zeit, um seine Wunden mit dem glasigen Fruchtmark zu behandeln. Dann ruhten sie sich unter den Bäumen aus. Später, nachdem die Sonnenglut ein wenig nachgelassen hatte, griff sich der Alte eine Sichel und forderte den Jungen auf, ihm auf ein Pfriemgrasfeld jenseits des Teichs zu folgen. Noch bevor sie das üppig wuchernde Röhricht umrundeten, wurde es dem Jungen auf einmal mulmig zumute und er blieb stehen. Als der Alte bei dem Feld ankam, drehte er sich um in der Annahme, der Junge stünde unmittelbar hinter ihm. Mit der Sichel in der Hand winkte er ihn zu sich. Doch der Junge schüttelte von weitem den Kopf. Der Hirte herrschte ihn an.
»Na los!«
Über eine Staude gebückt mähte er mit mehreren Hieben ein Büschel Halme ab. Er reckte es in die Höhe, damit der Junge es sah, und legte es dann mitsamt derSichel zu seinen Füßen auf den Boden. Als er auf dem Rückweg zum Rastplatz an dem Jungen vorbeikam, trug er ihm auf, acht oder zehn Bündel zu den Erlen zu bringen. Der Junge blickte dem Alten nach, bis er hinter dem dichten Schilfgestrüpp verschwand. Dann trottete er zu der Stelle, an der die Sichel lag, und musterte einen Moment lang das sich vor ihm ausbreitende Feld. Die inselartigen Grasflächen und die Geröllwege dazwischen. Er schritt die Pfade ab auf der Suche nach den höchsten Stauden und begann mit dem Mähen. Als der Ziegenhirt ihm gezeigt hatte, wie man das Gras mähte, hatte er nicht gesagt, dass er mit dieser Art von Arbeit bestens vertraut war. Denn er war es, der daheim das Gelände ums Haus herum sauber hielt.
Am Spätnachmittag befand der Junge seine Arbeit für beendet. Er verteilte das Material auf mehrere Bündel und schickte sich an, sie in den Schatten zu tragen. Den ersten Packen legte er neben dem Hirten ab und machte kehrt, um die nächste Ladung zu holen. Der Hirte, der soeben eine weiße Ziege molk, ließ die Hände an den Zitzen für ein paar Sekunden ruhen, bevor er ungerührt fortfuhr. Kein Lob, kein Dank. Das Gesetz der kargen Ebene.
Am Abend verzehrten sie Milch mit Brot, und anschließend rieb sich der Junge eine ganze Weile das Gesicht mit Aloe ein. Während er dem Ziegenhirten
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