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Die Flucht: Roman (German Edition)

Die Flucht: Roman (German Edition)

Titel: Die Flucht: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Jesus Carrasco
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ihm. Er packte die Flasche mit beiden Händen und schaffte es schließlich, sie bis auf Taillenhöhe hochzuhieven. Der Reiter beugte sich herunter, nahm das Gefäß entgegen und reichte es dem Anführer. Der entkorkte es und nahm einen ordentlichen Schluck. Das Wasser rann ihm übers Kinn und benetzte das staubige Tuch, das er um den Hals geschlungen trug. Als er fertig war, wischte er sich mit dem Handrücken den Mund ab und gab die Flasche dem Mann, der sie ihm gereicht hatte. Der ließ sein Pferd umkehren und bot dem anderen Reiter einen Schluck an, der nichts trank, sich aber Gesicht, Nacken und Hemd nass machte.
    »Trink, Rotschopf, verdammt!«
    Der Rothaarige wehrte mit der Hand ab.
    »Noch weißt du nicht, ob der Alte Wein da hat.«
    »Den wird er haben.«
    »Ich kannte einmal einen Typen, der seit seinem zwölften Lebensjahr kein Wasser mehr trank …«
    »Lass mich in Frieden!«
    Der Polizeiwachtmeister wandte den Kopf ab. Erbrauchte die beiden Männer nicht einmal anzublicken, damit sie auf der Stelle verstummten.
    »Wir sind auf der Suche nach einem vermissten Jungen.«
    Der Ziegenhirt blickte geistesabwesend in die Ferne und runzelte die Stirn, als versuchte er, sich zu erinnern. Er schätzte die Lage ab, in die der Polizeiwachtmeister ihn brachte. Ein stolzer Mann.
    »Ich bin schon seit Wochen keinem Christenmenschen mehr begegnet.«
    »Du musst dich reichlich einsam fühlen.«
    »Die Ziegen leisten mir Gesellschaft.«
    Der Rothaarige stellte sich in den Steigbügeln auf, als wollte er den Schritt lüften oder über eine Wand spähen. Er ließ den Blick über die Mauer schweifen auf der Suche nach Hinweisen. Er wirkte wie ein Ingenieur, der aus der Hauptstadt gekommen war, um die Burgruine zu begutachten.
    »Ich bin mir sicher, dass du deinen Spaß mit ihnen hast.«
    Der Reiter, der das Wasser gebracht hatte, brach in dröhnendes Gelächter aus, während der Polizeiwachtmeister gezwungen grinste. Der Alte ließ sich nicht aus der Ruhe bringen, ebenso wenig der abwesend wirkende, den sie Rotschopf nannten. Der Alte hielt sich mit gekrümmtem Körper nur mit Mühe auf den Beinen, während der Polizeiwachtmeister sich mit den Fingern übers Kinn strich und über seine nächste Frage nachdachte.
    »Du bist aber sehr weit gekommen mit deinen Tieren.«
    »Ich bin Hirte. Ich suche Weideplätze.«
    Der Rothaarige zog die Zügel an, und sein Pferd setzte sich in Gang. Während der Polizeiwachtmeister weiter mit dem Alten sprach, trottete es übers Schottergelände auf das Ende der Mauer zu, hinter dem der Junge verschwunden war. Der Alte zwang sich, nicht zu dem Schergen hinüberzublicken, denn jede Geste in seine Richtung würde dem Polizeiwachtmeister verraten, was er längst ahnte. Der Reiter umrundete langsamen Schritts die Ruine, und als er auf die andere Seite gelangte, war der Junge nicht mehr da. Er stieg ab und untersuchte zu Fuß das Fundament der Mauer, ohne auf die mit dem Blut des Jungen befleckten Steinsplitter zu achten. Als er in der Mitte ankam, stocherte er mit der Stiefelspitze in dem feuchten Fleck, den der Junge dort hinterlassen hatte. Mit aufgestütztem Gewehrkolben bückte er sich, hob eine Prise Sand mit den Fingern auf und hielt sie sich unter die Nase.
    Auf der anderen Seite sagte der Polizeiwachtmeister in diesem Moment zum Hirten, dass das hier nicht gerade ein schattiges Plätzchen sei und dass das gleiche trockene Gras auch direkt außerhalb des Dorfes wachse. Niemand, fuhr er fort, würde hierherkommen, um ihm seine spärliche Milch abzukaufen, er hätte besser auf ihn hören sollen, damals, als er ihn zu den Stellen geführt habe, an denen er hätte weiden sollen. Er erinnerte ihn an seine Worte von einst: »In der Nähe, aber außerhalb.«
    Der Rothaarige setzte seine Erkundungstour zum Turmeingang fort. Bevor er eintrat, prüfte er die runden Konturen, die in den wolkenlosen Himmel aufragten.Einige der geflohenen Tauben kehrten zurück. Vorsichtig schob der Mann seinen Kopf durch die Tür. Überall Vogelexkremente. Ausgetrocknete Kadaver zweier junger Täubchen, zerbrochene Eierschalen und Reste eines von einem Raubvogel zerfetzten Nagers. Pergamentartiges Muffeln nach Exkrementen, das den flüchtigen Geruch nach kindlichem Urin verdeckte. Der Scherge des Polizeiwachtmeisters beugte sich ins Innere des Turms vor und blickte nach oben. Nur die erste Stufe der alten Wendeltreppe war noch intakt. Darüber stieg eine Spirale aus halb herausgebrochenen Steinen an der Wand empor wie

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