Die Flucht: Roman (German Edition)
Wand hinter seinem Rücken ab auf der Suche nach irgendetwas, einer Tür, die nicht existierte, oder einer Mutter, die ihm die Wunden leckte. Die Flammen beleuchteten das Turminnere, und als er einen schmalen vertikalen Schatten direkt gegenüber seiner Position erspähte, keimte überall in seinem Körper Hoffnung auf. Er vermutete ein Fenster oder eine Heiligennische auf halber Höhe, so eine, wie er sie vom Aufstieg zur Christuskapelle in seinem Dorf kannte. Er drehte sich auf seinem winzigen Vorsprung um und tastete die Wand hinter sich nach Haltemöglichkeiten ab. Überall befanden sich Schlaglöcher und Ritzen. Er klemmte die Hände in die Einbuchtungen und schaffte es mit Hilfe der Stufenreste und der Löcher, die die herausgefallenen Steine in der Mauer hinterlassen hatten, sich vorwärtszuhangeln. Irgendwann, er hatte jegliches Zeitgefühl verloren, erreichte er den Schatten. Eine vermauerte Schießscharte, die durch die Wand nach draußen führte. Er hockte sich auf den dreieckigen Sims und schob die Hand zwischen die Steine, mit denen der Durchbruch verschlossen war. Der Rauch erreichte allmählich seine Höhe. Es gelangihm, ein paar Felsbrocken herauszuziehen. Sie fielen ins Feuer, da er in der Panik seine Bewegungen nicht mehr im Griff hatte. Zu seinem Glück war der Polizeiwachtmeister in einiger Entfernung von der Tür ganz ins Rauchen seiner Zigarette vertieft, und seine Männer unterhielten sich lautstark, darauf gefasst, dass irgendwann ein Körper hinabstürzen würde, kein Stein.
Obwohl ihm der Qualm bereits im Rücken brannte, weshalb seine Bewegungen behindert wurden, schaffte er es, sein Gesicht in die Öffnung zu zwängen, um endlich durchzuatmen. Inzwischen entwich auch Rauch durch die Öffnung, und ein paar endlose Sekunden lang musste er sich mit dem grauen Qualm, der ihm in den Augen brannte und das Haar kräuselte, arrangieren. Er presste das Gesicht so heftig gegen den Stein, dass ihm die Brandblasen von der Sonne auf den Wangen aufplatzten. Irgendwann atmete er zu viel Rauch ein und musste den Kopf zurückziehen und drinnen husten, um sich seinen Häschern draußen nicht zu verraten. Nach und nach ließen Feuer und Qualm nach, sodass der Junge den Kopf wieder aus der engen Schießscharte ziehen konnte. Als er sich mit schwarzen Fingern das Gesicht abtastete, spürte er ein juckendes Brennen.
Kaum waren die Packkörbe zu einem Haufen glühenden Fadengewirrs zusammengeschrumpft, ging der Polizeiwachtmeister wieder zum Eingang des Turms und inspizierte den Innenraum. Hastig rauchte er seine Zigarette auf, warf die Kippe auf den Boden, trat sie aus und sagte zu seinen Männern, sie würden aufbrechen. Da näherte sich der Rothaarige der Tür und horchte ins Inneredes Gewölbes. Als er herauskam, flüsterte er dem Polizeiwachtmeister ins Ohr, vielleicht sollten sie noch ein Weilchen warten. Der Anführer blickte ihn verärgert an, machte eine Geste mit der Hand und hockte sich wieder auf seinen Stein, um sich eine weitere Zigarette zu drehen. Der Rothaarige kehrte zu seinem Begleiter zurück und unterhielt sich leise mit ihm, der eine mit dem Gesicht, der andere mit dem Rücken zum Turm, sodass er die weite Ebene überblickte. Sie wirkten wie Trauergäste, die ungeduldig der Beerdigung harrten. Als könnten sie es kaum erwarten, endlich wieder in die Schenke zu kommen.
Als der Polizeiwachtmeister die Zigarette zu Ende geraucht hatte, warf er die Kippe neben die vorherige und trat sie mit dem Stiefel aus. Dann rückte er sich den Hut zurecht und marschierte wortlos um die Mauer herum. Der eine Scherge stieß den anderen mit dem Ellenbogen an, und beide folgten ihrem Chef auf dem Fuße. Sie gingen zu den Pferden, die losgebunden mitten in der Ziegenherde standen, während der Alte mit geschlossenen Augen vor sich hin betete.
6
N och lange, nachdem das aufgeregte Meckern der Ziegen, die Männerstimmen und der Lärm des davonbrausenden Motorrads verklungen waren, blieb der Junge in seinem Versteck. Die giftigen Rauchschwaden hatten sich verzogen, und er stellte sich die vom Feuer zerstörten Eier der hier nistenden Tauben vor, die geschwärzte Schale, darin die halb ausgebrüteten Küken. Seit Stunden hockte er schon mit schmerzenden Beinen eingezwängt auf dem Sims, doch er beschloss, weiter auszuharren, um ganz sicherzugehen, dass der Polizeiwachtmeister nicht mehr vor dem Turmeingang auf ihn wartete. Dort oben, rußgeschwärzt, aber lebendig, ließ er die Stunden verstreichen,
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