Die Flucht: Roman (German Edition)
unschlüssig, wie er die durchlittenen Qualen deuten sollte. Er fragte sich, ob sie den Turm auf einen Fingerzeig des Hirten hin in Brand gesetzt hatten oder nur, weil er weit und breit das einzig mögliche Versteck bot.
Durch die Schießscharte sah er den Abend heraufziehen, während ihm das Brennen seiner wie von Salz zerfressenen Haut zusetzte. Er hörte seinen Magen knurren,und nach dem langen Kauern war längst jegliches Gefühl aus den angewinkelten Knien, den gequetschten Muskeln gewichen. Die Stimme des Hirten erklang nicht. Er schlief ein.
Mitten in der Nacht weckte ihn ein Geräusch. Ein erstickter Schrei, der vom Fuß des Turms zu ihm hinaufdrang. Die Wände rochen nach abgestandenem Rauch, und er spürte wieder das Ziehen der Haut und seinen pappenden Gaumen. Durch die Schießscharte blickte er nach draußen. Der zunehmende Mond tauchte die Ebene in ein fahles Licht und rang der Erde einige Blauschattierungen ab. Die Stimme, die ihn rief, wurde lauter, nicht deutlicher.
»Bist du da, Junge?«
Er hörte den Hirten husten und kurz darauf den dumpfen Aufprall eines Körpers. In der Dunkelheit des Turms fühlten sich die Steine glitschig an, und beim Herunterklettern musste er mit den harten Stiefelspitzen tastend nach Mulden suchen, die ihm Halt boten. Das Absteigen dauerte länger als gedacht, und als er endlich unten ankam, lag der Alte dort mitten auf dem Boden. Er zupfte ihn am Ärmel, klatschte ihm ins Gesicht – keine Reaktion. Dann legte er ihm das Ohr auf die Brust, um nach den Herztönen zu horchen, doch durch die Kleidung war kein Puls zu spüren. Auf der Suche nach dem Gesicht hatte er in etwas klebrig Feuchtes auf der Brust des Alten gefasst. Er beschloss, ihn aus dem Turm hinauszuschaffen, um im schwachen Mondschein nachzuschauen, was ihm fehlte. Doch er brauchte eine Ewigkeit, um ihn an den Beinen auch nur bis zur Tür zu zerren.Als er den Mann endlich draußen hatte und sich mit dem Gesicht über seinen Mund beugte, stellte er fest, dass sein Atem schwach und unregelmäßig ging. Doch den Grund für seine Hinfälligkeit konnte er nicht erkennen.
Die Nacht über kauerte er an der Seite des reglos daliegenden Alten. Es wehte eine laue Brise, untermalt vom unruhigen Lärmen einiger Ziegen. Die Stirn des Mannes glühte, und er stöhnte im Schlaf vor Schmerzen, eine endlose, eintönige Litanei.
Der Junge war so erschöpft, dass er erst wach wurde, als es längst tagte. Nun fand er heraus, was geschehen war. Der Alte lag immer noch regungslos neben ihm, die Kleidung in Fetzen. Der Polizeiwachtmeister und seine Schergen hatten ihm das Jackett heruntergerissen und ihn nur mit dem Hemd am Leib ausgepeitscht. Der Stoff klebte längs der Striemen am Körper. Sein Gesicht war blutverkrustet. Die übel zugerichteten Lippen wulstig, mit geröteten Pusteln. Die geschlossenen Lider wund und aufgequollen wie reife Feigen, Arme und Beine übersät mit blauen Flecken. Seitlich blitzten Peitschenstriemen hervor wie zusätzlich aufgemalte Rippen. Der Junge versuchte, ihn sanft wachzurütteln, aber der Mann reagierte nicht. Er zog ihn heftig am Arm, um ihn aufzurichten, doch sein Körper wirkte wie an die Fundamente der Burg festgenagelt. Erst als er ihn kräftig ohrfeigte, gab der Alte ein Lebenszeichen von sich.
»Hör auf, mich zu schlagen, Junge. Ich bin schon genug verprügelt worden.«
Er sprach halb benommen, mit belegter Stimme und geschlossenen Augen, so als meldete sich weniger seineStimme als sein Geist. Der Junge schlug die Hände vor das rußgeschwärzte Gesicht. Versuchte sich mit den schwieligen Handflächen die Haut abzurubbeln. Zerkratzte sich die Wangen, eine sinnlose Geste, die ihm keine Linderung brachte, sondern seine Anspannung noch verschärfte. Unfähig, das Geschehene zu begreifen, hätte er am liebsten losgeheult, geschrien, sich etwas angetan.
»Bring mir Wasser!«
Der Junge rannte los. Jenseits der Mauer lag ein halbes Dutzend Ziegen mit durchgeschnittener Kehle verstreut auf dem Gelände. Fliegen zierten ihre Wunden wie grinsende Kinnriemen. Sie krabbelten über- und untereinander in die klaffenden Wunden im Fell, durchtränkten sie mit Bakterien und legten ihre Eier ab. Die drei überlebenden Tiere grasten in der von dem Gemetzel verschonten Umgebung, selbstvergessen ihren Mägen ergeben. Etwas weiter entfernt der Esel. Von Hund und Ziegenbock keine Spur.
Der Inhalt der Tragekörbe lag längs der Mauer verstreut. Die verschüttete Ölkanne, die Pfanne, die Lappen, der
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