Die Flucht: Roman (German Edition)
gerade gesagt hatte.
Den Rest des Tages verbrachten sie getrennt. Der Hirte mit seiner Bibel auf der einen und der Junge mit dem Hund auf der anderen Seite der Mauer. Am frühen Abend angelte der Alte sich mit dem Stab seinen Ranzen und kramte daraus ein Stück Fladenbrot und die letzten ranzigen Mandeln hervor. Während er wartete, dass der Junge wiederkam, versuchte er, die Mandeln mit zwei Steinen zu knacken. Seine Hände zitterten, und es gelang ihm nicht, die Mandeln entsprechend zurechtzulegen. Als er sich bei einem der vielen Versuche auf die Finger schlug, schrie er auf vor Schmerz. Erst nachdem die Sonne schon fast untergegangen war, tauchte der Junge wieder auf, in der einen Hand einen Stock und in der anderen ein Kaninchen. Der Hund scharwenzelte um ihn herum.
Trotz seiner schmerzenden Knochen war es der Alte, der das Kaninchen enthäutete. Er wog es in beiden Händen, schätzte sein Gewicht ab, und einen Moment lang wirkte er zufrieden mit dem Beutestück. Anschließend schlitzte er das Fell an den Beinen und am Bauch auf und zog dieHaut ab, bis das Tier völlig nackt war. Die Eingeweide warf er dem Hund hin und bat den Jungen dann, ihm aufzuhelfen. Gemeinsam gingen sie zum Turm, und während der Alte mit Steinen eine Feuerstelle errichtete, durchstreifte der Junge das Areal auf der Suche nach Brennmaterial. Sie grillten das Kaninchen auf dieselbe Weise wie die Ratte. Während des Abendessens redeten sie nicht. Sie beschränkten sich darauf, das Fleisch bis auf die letzte an den Knochen haftende Faser abzunagen. Nach dem Mahl drehte der Alte sich eine Zigarette, während der Junge sich daranmachte, die Feuerstelle zu reinigen und die Knochen sowie das Fell zu entsorgen. Erst als er die Abfälle in einiger Entfernung von der Burg vergrub, fiel ihm wieder ein, wie der Alte ihn vor der Gefahr gewarnt hatte, Feuer zu machen. Der Junge beendete seine Abfallentsorgung, indem er Erde mit seinen Stiefeln über der Grube plattdrückte, und kehrte zu dem Hirten zurück. Der stand, den Rücken ihm zugekehrt, ein paar Meter von der Decke entfernt da, eine Hand auf die Mauer gestützt, und urinierte. Der Zigarettenqualm hüllte seinen Kopf ein wie eine Wolke trüber Gedanken.
»Woher wissen Sie, dass die Männer hinter mir her sind?«
Der Alte blieb stumm. Der Junge wartete. Ohne die Hand von der Wand zu nehmen, beendete der Ziegenhirt sein Geschäft und schüttelte ab. Als er sich umdrehte, sah der Junge seine nasse Hose und die rosa Eichel, die aus dem Hosenstall hervorschaute.
Hastig ergriff er die Flucht und verschwand im Dunkel. Sein Unterbewusstsein trieb ihn in die Richtung, inder er wenige Minuten zuvor die Essensabfälle vergraben hatte. Stolpernd und wütend gegen die Steine tretend rannte er daran vorbei, so schnell er konnte, und weiter auf den Brunnen zu, bis er gegen den Absperrhahn der Zisterne stieß. Dort blieb er liegen, mitten in der Dunkelheit, während er spürte, wie das gleichmäßig pochende Blut die Verletzung an der Wade anschwellen ließ. Als er sich wieder beruhigt hatte, kroch er bis zum Wasserspeicher vor und ließ sich dort an die Ziegel gelehnt nieder. Von seinem Platz aus hatte er einen verschwommenen Blick auf die Mauer und die umliegende Ebene. Der Anblick des Alten, wie er sich ungelenk zu ihm umgewandt hatte, ließ ihn nicht mehr los. Die feuchte Eichel, das nackte Fleisch des gehäuteten Kaninchens, die Häscher, die hinter ihm her waren. Er fürchtete, dass dieser Rastplatz nichts anderes war als eine Wartestation. Ein Treffpunkt, an dem er dem Polizeiwachtmeister ausgeliefert werden sollte. Er dachte, der Alte habe seine Schmerzen nur geheuchelt und ihn hergelockt, um ihn fern des Dorfes hinrichten zu lassen. Er stellte sich vor, wie der Ziegenhirt seelenruhig zusähe, wie er gequält wurde. Er wünschte sich weit fort und beklagte, dass es ihm nicht gelungen war, sein Schicksal besser zu ertragen. Das ferne Meckern der Ziegen lenkte ihn ab, und für eine Weile richtete er seine Aufmerksamkeit auf die Burgruine, die still vor ihm lag. Später, als sein voller Magen sich von der Anstrengung der Flucht erholt hatte, ließ er sich von den Geräuschen der Ziegen einlullen und nickte im Sitzen, den Kopf auf der Brust hängend, ein.
Kurz vor der Morgendämmerung weckte ihn derHund, der ihn mit der Schnauze am Hals anstupste. Noch halb im Schlaf stieß ihn der Junge weg, doch das Tier beschnüffelte ihn erneut unter dem Kinn. Als der Junge die Augen aufschlug, sah er ihn als
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