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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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deinen Weg machen wirst, denn du bist zwei Wochen zu früh gekommen. Du hattest wohl genug vom Warten und wolltest endlich herausfinden, was die Welt dir zu bieten hat. Ich kann’s dir nicht verdenken. Der Himmel ist so groß und blau und die Bäume sind so grün, und es ist eine Welt, in der die Tiere sprechen, du kannst mit ihnen reden, und es gibt so viel Staunenswertes, so viel, das nur darauf wartet, sich dir zu zeigen. Ich kann es kaum aushalten, dass es noch eine Weile dauert, bist du das alles erleben darfst, am liebsten würde ich dir alles auf einmal zeigen.«
    Viola holt Luft und sagt: »Da hat sie etwas Platz gelassen und dann steht da ›Später‹. Sieht aus, als wäre sie unterbrochen worden.« Sie schaut mich prüfend an. »Alles okay?«
    »Jaja«, sage ich. »Weiter.«
    Es wird heller, die Sonne ist über dem Horizont, deshalb drehe ich mich ein wenig zur Seite, weg von Viola.
    Sie liest weiter.
    »Tut mir leid, mein Sohn, ich musste kurz unterbrechen, ich hatte Besuch von unserm Geistlichen, Aaron. «
    Viola hört auf zu lesen und fährt sich mit der Zunge über die Lippen.
    »Wir können froh sein, ihn hier bei uns zu haben, obwohl ich zugeben muss, dass er in letzter Zeit Dinge sagt, mit denen ich nicht einverstanden bin. Es geht dabei um die Ureinwohner von New World. Wir nennen sie Spackle und sie haben sich als eine Riesenüberraschung erwiesen. Das lag daran, dass sie anfangs sehr scheu waren, sodass weder die ersten Siedlungsplaner aus der alten Welt noch die Forschertrupps sie jemals zu Gesicht bekamen.
    Sie sind von sehr freundlicher Natur. Natürlich sind sie anders, vielleicht sogar primitiv – so weit wir wissen, verfügen sie weder über eine gesprochene noch eine geschriebene Sprache –, aber ich kann einigen Leuten hier nicht zustimmen, die behaupten, die Spackle seien Tiere und keinesfalls vernunftbegabte Lebewesen. Aaron predigt neuerdings, dass Gott eine Trennlinie gezogen hat zwischen uns und den anderen ...
    Aber das ist nun wirklich nichts, was man sich an seinem ersten Lebenstag durch den Kopf gehen lassen sollte, nicht wahr? Aaron geht ganz in seinem Glauben auf, und er ist in all den Jahren eine große Stütze gewesen, und falls jemand dieses Buch in die Hände bekommt und es liest, dann sei an dieser Stelle gesagt, dass ich es als große Wertschätzung empfinde, wenn ein solcher Mann dich an deinem allerersten Lebenstag segnet.
    Trotzdem wollte ich dir an deinem ersten Tag auch etwas über den Reiz der Macht sagen, damit du Bescheid weißt, noch ehe du alt genug dafür bist, denn genau das unterscheidet den Jungen vom Mann, wenn auch nicht so, wie die meisten Männer glauben.
    Mehr sage ich dazu nicht. Augen und Ohren sind überall. Mein Sohn, die Welt ist voller Wunder. Lass dir von niemandem etwas anderes einreden. Ich gebe zu, das Leben in New World ist hart, denn ich möchte von Anfang ehrlich mit dir sein. Ich gestehe ein, ich war der Verzweiflung nahe. Die Verhältnisse sind schwieriger, als ich es dir jetzt erklären kann. Du wirst noch früh genug deine eigenen Erfahrungen machen, ob es mir passt oder nicht. Die Nahrungsmittel waren knapp und es traten Krankheiten auf. Das Leben war schon schwer genug, bevor ich deinen Vater verlor, und danach habe ich fast aufgegeben.
    Aber dann habe ich weitergemacht. Ich habe nicht aufgegeben, und der Grund dafür warst du, mein wunderwunderhübscher Junge, mein prächtiger Sohn. Du, der etwas Gutes aus seinem Leben machen kann, und den ich, das verspreche ich hiermit, in Liebe und Hoffnung großziehen werde, damit die Welt ein wenig besser wird.
    Denn als ich dich heute Morgen zum ersten Mal in meinen Armen hielt und dich an meinem Körper nährte, verspürte ich eine solche Liebe. Sie war so überwältigend wie ein großer Schmerz, ich konnte sie fast nicht ertragen.
    Aber nur fast.
    Ich habe dir ein Lied vorgesungen, das schon meine Mutter früher für mich gesungen hat und deren Mutter für sie, und es geht so ...«
    Und jetzt, man glaubt es nicht, fängt Viola an zu singen. Ja, sie singt.
    Ich kriege eine Gänsehaut und meine Brust wird wieder mal ganz eng. Bestimmt hat sie die Melodie in meinem Lärm gehört, und natürlich hat Ben genau dieses Lied gesungen, also singt sie, und es klingt wie Glockenklang.
    Violas Stimme verwandelt die Welt für mich, indem sie zur Stimme meiner Ma wird.
     
    Früh am Morgen, wenn die Sonn aufgeht
    Eine Maid vom Tal zu mir fleht,
    Ach, betrüg mich nie, ach, verlass mich nie,
    Wie kannst

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