Die Flucht
wischt.
Nach einer Minute, in der sie wortlos in die Weite geschaut hat, reicht sie mir das Fernglas und ich werfe den ersten Blick auf Haven.
Der Sprühnebel ist so dicht, selbst wenn man ihn wegwischt, erkennt man keine Einzelheiten wie etwa Menschen, aber ich sehe alle möglichen Häuser, die sich um etwas gruppieren, was aussieht wie eine große Kirche mitten in der Stadt, und da sind auch andere große Gebäude und gepflegte Straßen, gesäumt von Bäumen, und noch mehr Häuser.
Es müssen mindestens fünfzig Häuser sein.
Vielleicht sogar hundert.
Das ist das Beeindruckendste, was ich in meinem ganzen Leben gesehen habe.
»Ich muss sagen«, ruft Viola, »die Stadt ist kleiner, als ich sie mir vorgestellt habe.«
Aber ich höre ihr gar nicht zu.
Mit dem Fernglas folge ich dem Flusslauf von der Stadt biszu uns, und ich stoße auf etwas, was aussieht wie eine Straßensperre und eine Art befestigter Zaun.
»Sie machen sich bereit«, sage ich. »Sie machen sich bereit zum Kämpfen.«
Viola schaut mich besorgt an. »Glaubst du, die Stadt ist groß genug? Glaubst du, wir sind dort sicher?«
»Hängt ganz davon ab, ob die Gerüchte über die Armee stimmen.«
Ohne nachzudenken, drehe ich mich um, als sei dort die Armee und warte nur darauf, dass wir weitergehen.
Von einem Hügel hat man sicher eine gute Sicht. »Sehen wir mal nach«, schlage ich vor.
Wir laufen ein Stück zurück, suchen nach einer Stelle, an der man gut klettern kann, finden auch eine und machen uns auf den Weg nach oben. Meine Beine sind so leicht, mein Lärm ist so gleichmäßig wie seit Tagen nicht.
Ich bin traurig wegen Ben, ich bin traurig wegen Cillian, ich bin traurig wegen Manchee und wegen allem, was Viola und mir widerfahren ist.
Aber Ben hatte Recht.
Am Fuß des größten Wasserfalls liegt Haven und das bedeutet Hoffnung. Und vielleicht tut sie gar nicht so weh.
Der Hang ist steil, und wir müssen uns an Kletterpflanzen festhalten und an Felsbrocken hochziehen, um weit genug hinaufzukommen, damit wir das Tal überblicken können.
Ich habe noch das Fernglas. Damit spähe ich zum Fluss hinunter, das Tal entlang, über die Baumwipfel hinweg. Selbst hier muss ich Wassertröpfchen von den Linsen wischen.
»Kannst du sie sehen?«, fragt Viola.
Der Fluss wird immer kleiner, je weiter ich zurückblicke.
»Nein.«
Ich suche.
Und suche wieder.
Und ...
Dort.
In der engsten Windung der Straße im tiefsten Abschnitt des Tales, im entferntesten Schatten, den die Sonne wirft, sind sie.
Menschen. Es kann nur die Armee auf dem Vormarsch sein. Allerdings ist sie noch so weit weg, dass ich sie überhaupt nur erkenne, weil sie wie dunkles Wasser aussieht, das sich in ein trockenes Flussbett ergießt. Es ist unmöglich, aus dieser Entfernung Einzelheiten auszumachen, ich erkenne weder Männer noch Pferde.
Es ist nur eine Masse, eine Masse, die sich die Straße entlangwälzt.
»Wie groß ist die Armee jetzt?«, fragt Viola. »Wie stark ist sie angewachsen?«
»Ich weiß es nicht«, antworte ich. »Dreihundert Reiter? Vierhundert? Keine Ahnung. Wir sind zu weit entfernt ... « Ich breche ab, denn mir wird klar, was das heißt.
»Wir sind zu weit entfernt«, sage ich dann noch einmal und muss plötzlich lächeln. »Viele, viele Meilen weit.«
»Wir haben gewonnen«, sagt Viola, und auch über ihr Gesicht huscht ein Lächeln. »Wir sind gerannt, und sie haben uns gejagt, und wir sind schneller gewesen als sie.«
»Wir gehen nach Haven und warnen jeden, der etwas zu sagen hat«, sprudelt es aus mir hervor. Mein Lärm wird laut vor Aufregung. »Sie haben Befestigungslinien und der Zugang zur Stadt ist schmal, die Armee braucht mindestens noch denRest des Tages, vielleicht sogar die Nacht, und ich schwöre, es sind nicht einmal tausend Mann.«
Ich schwöre es.
(Aber ...)
Viola hat das müdeste, glücklichste Lächeln, das ich jemals gesehen habe. Sie greift nach meiner Hand. »Wir werden gewinnen.«
Doch dann ist wieder die Unsicherheit da, die in der Hoffnung liegt, und mein Lärm wird grau. »Gut, aber wir sind noch nicht dort, und wir wissen nicht, ob Haven ...«
Viola schüttelt den Kopf. »Nein, nein«, sagt sie. »Wir werden sie besiegen. Du hörst jetzt auf mich und bist fröhlich, Todd Hewitt. Wir haben die ganze Zeit nichts anderes gewollt, als die Armee zu überlisten. Und weißt du was? Wir haben es geschafft.«
Sie blickt mich an, lächelt, erwartet eine Antwort von mir darauf.
Mein Lärm summt, er ist fröhlich und
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