Die Flucht
zurück in die Tasche mit den Vorräten.
»Lass uns gehen.«
Zurück auf die Straße, zurück zum Fluss, Richtung Haven. »Ich schätze, das ist unsere letzte Nacht«, sagt Viola. »Wenn Doktor Snow Recht hat, sind wir morgen da.«
»Ja«, sage ich, »und dann ist alles anders.«
»Wieder einmal«, sagt sie.
»Wieder einmal«, sage ich.
Wir gehen weiter.
»Hast du wieder Hoffnung?«, fragt sie, und in ihrer Stimme liegt Neugier.
»Nein.« Ich versuche angestrengt meinen Lärm zu verstellen. »Du etwa?«
Sie schüttelt den Kopf. »Nein, nein.«
»Aber wir gehen trotzdem.«
»Natürlich«, sagt Viola, »egal, ob Tod oder Teufel auf uns warten.«
»Wahrscheinlich beides«, sage ich.
Die Sonne geht unter, wieder gehen die Monde auf, ihre Sicheln sind schmaler als am Tag zuvor. Der Himmel ist wieder klar, die Sterne scheinen wieder, die Welt ist auch heute wieder still, nur das Rauschen des Flusses ist zu hören.
Mitternacht kommt.
Fünfzehn Tage.
Fünfzehn Tage bis ...
Bis was?
Wir laufen durch die Nacht. Der Himmel versinkt langsam hinter uns in Dunkelheit, und wir versinken in Schweigen, weil sich der Hunger wieder meldet und Müdigkeit uns überfällt.
Kurz vor dem Morgengrauen stoßen wir auf zwei umgestürzte Wagen am Straßenrand, überall sind Weizenkörner verstreut, und leere Körbe liegen kreuz und quer durcheinander auf dem Boden.
»Sie haben sich nicht einmal die Zeit genommen, alles wieder einzusammeln«, stellt Viola fest.
»Dieser Platz ist so gut wie jeder andere, um zu frühstücken.«Ich drehe einen leeren Korb um, ziehe ihn dorthin, wo man den Fluss im Blick hat und setze mich darauf.
Viola nimmt einen zweiten Korb, stellt ihn rechts neben mich und setzt sich ebenfalls. Am Himmel zeigt sich ein schwacher Lichtschein, dort, wo die Sonne aufgehen will. Der Weg führt uns geradewegs darauf zu, auch der Fluss rauscht dem morgendlichen Schimmer entgegen. Ich mache die Tasche auf und hole die Vorräte aus dem Laden heraus, gebe etwas davon Viola und esse meinen Teil. Wir trinken aus den Wasserflaschen.
Die Tasche liegt offen auf meinem Schoß. Da sind die wenigen Kleidungsstücke, die uns noch geblieben sind, und da liegt das Fernglas.
Und das Buch.
Ich spüre Violas Stille neben mir. Sie zerrt an mir. Und da ist die Leere in meiner Brust, in meinem Bauch, in meinem Kopf, und ich muss wieder an den Schmerz denken, den ich bisher verspürte, wenn sie mir zu nahe kam, weil es sich wie Trauer anfühlte, wie ein Verlust, so als ob ich fiele. Mir war so, als würde ich ins Nichts fallen, weil es mich einschnürte, mich fast zum Weinen brachte, obwohl ich es nicht wollte.
Aber jetzt ...
Jetzt nicht mehr.
Ich schaue sie an.
Sie muss doch wissen, was sich in meinem Lärm abspielt. Ich bin der einzige Mensch weit und breit, und sie versteht es immer besser, meinen Lärm zu lesen, egal wie laut der Fluss rauscht.
Aber sie sitzt nur da, isst still und wartet darauf, dass ich etwas sage.
Sie wartet darauf, dass ich sie frage.
Denn ich habe mir etwas überlegt.
Wenn die Sonne aufgeht, bricht der Tag an, an dem wir nach Haven kommen, der Tag, an dem wir an einen Ort kommen, an dem sich mehr Menschen aufhalten, als ich jemals in meinem Leben gesehen habe, an einen Ort, an dem es so vor Lärm dröhnt, dass man nie für sich sein kann, es sei denn, die Bewohner hätten ein Mittel dagegen gefunden. Aber in diesem Fall wäre ich der Einzige mit Lärm und das wäre noch schlimmer.
Wir werden nach Haven kommen, wir werden in diese Stadt eintauchen.
Dann gibt es nicht mehr nur Todd und Viola, die beiden einzigen Menschen auf diesem Planeten, die bei Sonnenaufgang am Fluss sitzen und frühstücken.
Dann werden alle dort sein, alle auf einmal.
Vielleicht ist dies unsere letzte Chance.
Ich schaue sie nicht an, als ich die Frage stelle.
»Weißt du, diese Sache mit den Stimmen, die du so gut nachmachen kannst?«
»Ja«, sagt sie leise.
Ich hole das Buch hervor.
»Glaubst du, du könntest auch eine aus Prentisstown nachmachen?«
38
Eine Maid vom Tal zu mir fleht
» Liebster Todd ... « Viola ahmt Bens Akzent nach, so gut es geht, und das ist verdammt gut.
»Liebster Sohn.«
Die Stimme meiner Ma. Meine Ma spricht zu mir.
Ich verschränke die Arme und starre auf den am Boden verstreuten Weizen.
»Ich beginne diese Aufzeichnungen am Tag deiner Geburt, dem Tag, an dem du meinen Leib verlassen hast und ich dich zum ersten Mal in den Armen halte. Du strampelst draußen genauso viel wie
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