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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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du mich Arme so missachten, wie?
     
    Ich schaffe es nicht, Viola anzusehen.
    Ich schaffe es nicht, sie anzusehen.
    Ich vergrabe den Kopf in meinen Händen.
    »Es ist ein trauriges Lied, Todd, aber es ist auch ein Versprechen. Ich werde dich nie betrügen, und ich werde dich nicht verlassen, das verspreche ich dir. Dann kannst auch du eines Tages einem anderen Menschen dieses Versprechen geben und weißt, dass es die Wahrheit ist.
    Oje, Todd! Jetzt fängst du an zu schreien. Kein Zweifel, du schreist in deinem Kinderbettchen. Du bist aufgewacht aus dem allerersten Schlaf deines allerersten Tages und forderst die Welt auf, zu dir zu kommen.
    Daher werde ich das Buch für heute schließen.
    Du rufst mich, Sohn, und ich komme.«
    Eine Weile sind nur das Rauschen des Flusses und mein Lärm zu hören.
    »Da steht noch mehr«, sagt Viola schließlich, als ich einfach nicht den Kopf hebe. Sie blättert durch die Seiten. »Noch viel mehr.« Sie schaut mich an. »Soll ich weiterlesen?« Sie blickt auf das Buch. »Soll ich das Ende lesen?«
    Das Ende.
    Die letzten Sätze, die meine Ma geschrieben hat, bevor sie ...
    »Nein«, sage ich rasch.
    Du rufst mich, Sohn, und ich komme.
    Für immer aufbewahrt in meinem Lärm.
    »Nein«, sage ich noch einmal. »Für heute lassen wir’s dabei.«
    Ihr Gesicht ist genauso traurig wie mein Lärm. Ihre Augen sind nass und ihr Kinn bebt, unmerklich fast, nur ein Zittern im Morgenlicht. Sie merkt, dass ich sie beobachte, merkt, dass mein Lärm sie beobachtet, und dreht sich weg von mir.
    Und da, an diesem Morgen, am Beginn eines neuen Tags, begreife ich etwas.
    Mir wird etwas klar.
    Es ist etwas so Wichtiges, dass ich, als ich es ganz und gar begreife, nicht länger sitzen bleiben kann und aufstehen muss.
    Ich weiß, was sie denkt.
    Ich weiß genau, was sie denkt.
    Sogar wenn sie mir den Rücken zudreht, weiß ich, was sie denkt und fühlt und was in ihr vorgeht.
    Die Art, wie sie sich von mir wegdreht, die Art, wie sie den Kopf hält und ihre Hände und das Buch in ihrem Schoß, die Art, wie sie den Rücken steif macht, sobald sie meine Gedanken in meinem Lärm hört.
    Ich kann es lesen.
    Ich kann sie lesen.
    Sie denkt daran, wie ihre eigenen Eltern hergekommen sind, voller Hoffnung, so wie meine Ma. Sie überlegt, ob sich diese Hoffnung am Ziel unseres Wegs als ebenso trügerisch erweisen wird wie die meiner Ma. Und sie stellt sich vor, wie ihre Mutter und ihr Vater genau die Worte zu ihr sagen, die sie vorgelesen hat. Sie hört, wie sie ihr sagen, dass sie sie lieben und sie vermissen und ihr nur das Beste wünschen. Und sielauscht dem Lied meiner Ma und verwebt es mit ihren eigenen Gefühlen, bis es auch zu ihrem traurigen Lied wird.
    Das tut weh, aber der Schmerz ist richtig, er muss so sein, aber es tut weh und es ist gut und es tut weh.
    Es tut weh.
    All das weiß ich.
    Ich weiß es ganz genau.
    Weil ich sie lesen kann.
    Ich kann ihren Lärm lesen, obwohl sie gar keinen hat. Ich weiß, wer sie ist.
    Ich kenne Viola Eade.
    Ich schiebe die Hände ein wenig zur Seite und stütze meinen Kopf damit.
    »Viola«, flüstere ich mit zittriger Stimme.
    »Ich weiß«, sagt sie ruhig und schlingt die Arme um sich. Aber sie dreht sich nicht zu mir um.
    Da sitzt sie und schaut über den Fluss, und wir warten darauf, dass der Tag anfängt, und wir wissen voneinander. Viola und ich, wir kennen uns.

39
    Der Wasserfall
    Die Sonne steigt langsam höher und der Fluss rauscht jetzt sehr laut. In Stromschnellen fließt er dem Ende des Tals zu und wirbelt Gischt hoch.
    Viola ist es, die endlich den Bann bricht. »Du weißt, was das bedeutet, oder?« Sie nimmt das Fernglas und schaut flussabwärts. Sie muss die Hand darüberhalten, um nicht geblendet zu werden.
    »Was ist?«, frage ich.
    Sie drückt ein, zwei Knöpfe, dann schaut sie wieder hindurch.
    »Was siehst du?«, frage ich.
    Wortlos drückt sie mir das Fernglas in die Hand.
    Ich folge dem Flusslauf, den Stromschnellen, den Schaumwolken bis ...
    Bis zum Ende.
    Ein paar Meilen vor uns endet der Fluss mitten in der Luft.
    »Ein Wasserfall«, sage ich.
    »Er scheint viel größer zu sein, als der, den wir mit Wilf gesehen haben«, sagt sie.
    »Keine Sorge, die Straße macht dort bestimmt einen Bogen«, sage ich.
    »Das meine ich nicht.«
    »Was dann?«
    »Ich meine«, sagt sie und runzelt die Stirn angesichts meiner Begriffsstutzigkeit, »dass am Fuß eines Wasserfalls, der so groß ist wie dieser, bestimmt eine Stadt liegt. Wenn man auf einem fremden

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