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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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Planeten einen Ort sucht, an dem man die erste Siedlung baut, dann ist ein Tal am Fuß eines Wasserfalls der vollkommene Platz dafür. Dort gibt es fruchtbares Ackerland und genügend Wasser.«
    Mein Lärm schreckt hoch, aber nur ein kleines bisschen. Denn wer wollte es auch nur zu denken wagen?
    Ich spreche den Namen aus. »Haven.«
    »Jede Wette, dass wir es gefunden haben«, sagt sie. »Ich bin sicher, wenn wir am Wasserfall stehen, werden wir die Stadt unter uns liegen sehen.«
    »Wenn wir rennen, könnten wir schon zum Frühstück dort sein«, sage ich.
    Zum ersten Mal, seit sie aus dem Buch meiner Mutter vorgelesen hat, schaut sie mich direkt an.
    Sie fragt: » Was heißt hier ›wenn‹?«
    Und dann lächelt sie.
    Ein richtiges Lächeln.
    Ich weiß auch, was es zu bedeuten hat.
    Wir packen unsere wenigen Habseligkeiten und gehen. Schneller als zuvor.
    Meine Füße sind wund und müde. Ihre bestimmt nicht weniger. Ich habe Blasen und sie tun mir weh. Mein Herz ist schwer von allem, was mir fehlt und was ich verloren habe. Ihres auch.
    Aber wir laufen.
    Oh Mann, und wie wir laufen!
    Denn vielleicht (halt die Klappe)...
    Nur vielleicht (denk nicht dran)...
    Vielleicht wartet die Hoffnung doch am Ende der Straße auf uns.
    Der Fluss wird breiter und gerader und die Talwände rücken enger zusammen, auf unserer Seite führt die Straße schon halb den Abhang hoch. Die Stromschnellen sprühen Nebelwolken in die Luft. Unsere Kleider werden feucht, unsere Gesichter, unsere Hände. Das Rauschen der Strömung geht in ein Donnern über, das alle anderen Geräusche über lagert und fast wie ein Lebewesen klingt, allerdings nicht drohend oder böse. Es ist, als bade man in diesem Donner, um den Lärm abzuwaschen.
    Und ich denke bei mir: Bitte, lass es Haven sein, das am Fuße des Wasserfalls liegt.
    Bitte!
    Denn ich sehe, wie sich Viola nach mir umschaut, während wir rennen, ihr Gesicht strahlt, sie nickt, lächelt, ermuntert, und ich wundere mich, wie es der Hoffnung gelingt, uns derart anzutreiben, aber gleichzeitig wird mir klar, dass die Hoffnung schmerzhaft und gefährlich ist, dass sie die ganze Welt herausfordert.
    Aber wann hat uns die Welt je gewinnen lassen?
    Bitte, lass dort unten Haven liegen!
    Oh bitte, oh bitte, oh bitte!
    Wir brauchen mehr als eine Stunde, bis wir den Wasserfall erreicht haben, obwohl wir die ganze Zeit nur gerannt sind, aber schließlich steigt die Straße langsam an, während unten das Wasser zwischen felsübersäten Stromschnellen tost. Zwischenuns und dem Fluss sind jetzt keine Bäume mehr. Rechts erhebt sich eine Bergwand und wird immer steiler, je mehr sich das Tal verengt, bis schließlich nur noch der Fluss und der Wasserfall vor uns liegen.
    »Wir haben’s fast geschafft«, ruft Viola. Ihr Haar weht ihr beim Laufen um die Schultern und über allem scheint die Sonne.
    Und dann.
    Dann macht die Straße einen scharfen Knick nach rechts und führt über eine Kuppe steil bergab.
    Genau an dieser Stelle bleiben wir stehen.
    Der Wasserfall ist riesig, gut und gern eine halbe Meile breit. Tosend donnert das Wasser über die Kante und sendet seinen Nebel aus feinen Wassertröpfchen scheinbar endlos in die Tiefe und hoch hinauf, überallhin. Es durchnässt unsere Kleider und die aufgehende Sonne malt einen Regen bogen dazu.
    »Todd«, sagt Viola fast tonlos.
    Aber ich brauche sie nicht zu hören.
    Ich weiß, was sie sagen will.
    Da, wo der Wasserfall endet, öffnet sich das Tal, es wird so weit wie der Himmel selbst, es empfängt den Fluss, der am Fuße des Wasserfalls seinen Lauf neu beginnt, zuerst als Wildwasser, ehe er sich wieder sammelt und zur Ruhe kommt und zu einem gewöhnlichen Fluss wird.
    Und er fließt nach Haven.
    Haven.
    Das muss es sein.
    Es liegt ausgebreitet vor uns wie ein reich gedeckter Tisch. »Da ist es«, sagt Viola.
    Ich spüre, wie ihre Finger sich mit meinen verschränken. Links von uns der Wasserfall, über uns Gischt und Regenbogen, vor uns die Sonne, unter uns das Tal.
    Und Haven.
    Es scheint nur auf uns zu warten.
    Verdammt noch mal, es liegt vor uns.
    Ich schaue zu der Stelle zurück, wo die Straße eine scharfe Kehre macht, um dann im Zickzack steil nach unten zu führen, wie ein Reißverschluss, der den Berghang teilt.
    »Das muss ich sehen«, sagt Viola. Sie lässt meine Hand los und holt das Fernglas hervor. Sie schaut hindurch, wischt die Feuchtigkeit von den Linsen und schaut wieder. »Es ist wunderschön«, sagt sie, mehr nicht, und sie schaut und

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