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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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Bäume und Himmel und Stille und eine lautlose Staubfahne, die sich über die Hügelkämme zieht.
    »Wir sollten lieber aufbrechen«, schlage ich vor. »Mir ist das nicht ganz geheuer.«
    »Dann lass uns gehen«, sagt Viola leise.
    Wieder auf der Straße.
    Wieder auf der Flucht.
    Wir haben nichts mehr zu essen, deshalb besteht unserFrühstück aus gelben Früchten, die Viola auf den Bäumen entdeckt hat und von denen sie schwört, sie habe sie auch in Carbonel Downs gegessen. Sie sind unser Mittagessen. Besser als nichts.
    Ich muss wieder an das Messer denken, das im Futteral steckt.
    Könnte ich damit jagen, wenn wir Zeit dazu hätten? Aber wir haben keine Zeit.
    Wir laufen den ganzen Mittag, und am Nachmittag laufen wir immer noch. Die Welt um uns herum ist verlassen und unheimlich.
    Es scheint nur mich und Viola zu geben, keine Siedlung weit und breit, keine Flüchtlinge, keine Viehgespanne, kein anderes Geräusch, das laut genug wäre, das Rauschen des Flusses zu übertönen, das mehr und mehr anschwillt, bis es schwierig ist, den eigenen Lärm zu hören, und Viola und ich schreien müssen, wenn wir miteinander reden wollen.
    Aber wir sind viel zu hungrig, um miteinander zu sprechen. Wir sind zu müde, um miteinander zu sprechen. Wir laufen zu schnell, als dass wir miteinander sprechen könnten.
    Also heißt es weitergehen.
    Ich ertappe mich dabei, wie ich Viola anschaue.
    Die Staubwolke auf dem Bergkamm folgt uns, überholt uns langsam, als der Tag voranschreitet, und verschwindet schließlich in der Ferne. Und währenddessen sehe ich Viola dabei zu, wie sie die Wolke beobachtet. Ich sehe ihr zu, wie sie neben mir herläuft, wie sie das Gesicht verzieht, weil ihre Beine schmerzen. Ich sehe ihr zu, wie sie die Beine massiert, wenn wir uns ausruhen, und betrachte sie, wenn sie aus der Wasserflasche trinkt.
    Jetzt, da ich sie einmal angesehen habe, kann ich nicht mehr damit aufhören.
    Sie erwischt mich. »Was ist?«
    »Nichts«, sage ich und schaue weg, denn ich weiß es auch nicht.
    Fluss und Straße verlaufen jetzt geradliniger, weil das Tal zu beiden Seiten schmaler und steiler wird. Wir können nun die Strecke, auf der wir gekommen sind, besser zurückverfolgen. Noch immer ist keine Armee zu sehen, geschweige denn Reiter. Die Stille hier ist unheimlicher, als es der Lärm von Männern wäre.
    Der Abend dämmert herauf. Die Sonne geht hinter uns im Tal unter, dort wo die Armee jetzt vielleicht ist, über dem, was von New World noch übrig ist. Ihr ist es gleich, was aus den Männern geworden ist, die gegen die Armee gekämpft haben, oder aus denen, die sich ihr angeschlossen haben.
    Ihr ist es gleich, was aus den Frauen geworden ist. Viola läuft vor mir her.
    Ich sehe ihr zu, wie sie läuft.
    Gerade als es dunkel geworden ist, erreichen wir eine Siedlung. Wieder eine mit Anlegestegen am Fluss, wieder eine, die verlassen ist. Nur fünf Häuser stehen entlang der Straße, eines davon scheint ein kleiner Laden zu sein, der Aufschrift auf der Vorderseite nach zu urteilen.
    »Halt«, sagt Viola und bleibt stehen.
    »Abendessen?«, frage ich schnaufend.
    Sie nickt.
    Mit sechs Fußtritten haben wir die Tür aufgebrochen, und obwohl sicher kein Mensch da ist, schaue ich mich trotzdem um und erwarte, dass man mich bestraft. Drinnen finden wirvor allem Konservendosen, aber auch einen trockenen Laib Brot, überreifes Obst und ein paar Streifen Dörrfleisch.
    »Das ist nicht älter als ein, zwei Tage«, meint Viola zwischen zwei großen Bissen. »Vermutlich sind sie gestern oder vorgestern nach Haven geflohen.«
    »Die Gerüchte über eine Armee haben eine verheerende Wirkung«, murmle ich undeutlich. Ich habe den letzten Bissen Dörrfleisch vor dem Hinunterschlucken nicht gut genug gekaut und würge ein Stückchen davon wieder hoch.
    Wir schlagen uns, so gut es geht, die Bäuche voll, den Rest stopfe ich in Violas Tasche, die nun prall gefüllt über meiner Schulter hängt. Dabei fällt mein Blick auf das Buch. Es ist noch da, es ist noch immer in die Plastikhülle gewickelt, noch immer geht der messerförmige Riss von vorn bis hinten durch.
    Ich greife in die Plastikhülle und fahre mit den Fingern über den Einband. Er fühlt sich weich an, die Buchdeckel riechen noch ein wenig nach Leder.
    Das Buch meiner Mutter. Es hat uns bis hierher begleitet. Hat seine Verwundungen überlebt. Genau wie wir.
    Ich schaue Viola an.
    Schon wieder ertappt sie mich dabei.
    »Was ist?«, fragt sie.
    »Nichts.« Ich stecke das Buch

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