Die Flucht
mein Blick huscht ungläubig zwischen beiden hin und her, »aber wie kommt es, dass Hildy noch am Leben ist? Der Lärm tötet die Frauen. Er tötet alle Frauen.«
Tam und Hildy werfen einander wissende Blicke zu, und ich höre, nein, ich spüre, wie Tam etwas in seinem Lärm zusammenquetscht.
»Nein, das stimmt nicht, Todd«, erwidert Hildy betont sanft. »Wie ich schon deiner Freundin Viola gesagt habe: Sie ist hier sicher.«
»Sicher? Wie kann sie hier sicher sein?«
»Frauen sind immun dagegen«, erwidert Tam. »Haben Glück gehabt, diese Weibsleute.«
»Nein, das sind sie nicht«, sage ich und meine Stimme überschlägt sich. »Das sind sie nicht! Die Frauen in Prentisstown haben sich mit dem Lärm angesteckt und alle sind daran gestorben! Meine Mutter ist daran gestorben! Vielleicht ist der Bazillus, den die Spackle bei uns verbreitet haben, stärker als bei euch, aber ...«
»Todd, mein Junge.« Tam legt mir beruhigend die Hand auf die Schulter.
Ich schüttle sie ab, ich weiß nicht, was ich noch sagen soll. Viola hat die ganze Zeit über geschwiegen. Ich schaue sie Hilfe suchend an, aber sie weicht meinem Blick aus. »Was ich weiß, das weiß ich«, sage ich laut, aber genau darin liegt ja ein Teil des Problems.
Wie kann das stimmen?
Wie in aller Welt kann das stimmen?
Wieder sehen Tam und Hildy sich so merkwürdig an. Ich will in seinem Lärm lesen, aber er ist so wahnsinnig gewieft darin, seine Gedanken vor der Neugier anderer zu verbergen. Deshalb stoße ich nur auf freundliche Worte.
»Prentisstown hat eine traurige Vergangenheit, Kleiner«, sagt er. »Dort ist eine ganze Menge schiefgelaufen.«
»Da irrst du dich«, antworte ich, aber meine Stimme verrät meine eigenen Zweifel.
»Jetzt ist nicht der rechte Augenblick, um darüber zu sprechen,Todd«, wirft Hildy ein. Sie reibt Violas Schulter und Viola lässt es geschehen. »Ihr braucht etwas zu essen und ein bisschen Schlaf. Unsere Vi hier sagt, dass ihr auf eurer langen Reise kaum etwas gegessen habt. Wenn ihr satt und ausgeschlafen seid, sieht die Welt ganz anders aus.«
»Und ich bin wirklich keine Gefahr für sie?«, frage ich und gebe mir größte Mühe, Vi dabei nicht anzusehen.
»Nun, was den Lärm angeht, ganz sicher nicht«, versichert Hildy. Ein Lächeln huscht über ihr Gesicht. »Und ob sie auch sonst keine Angst vor dir haben muss, nun, das weißt du selbst am besten.«
Ich wünsche mir so sehr, dass sie Recht hat, und zugleich möchte ich ihr sagen, dass sie sich irrt, deshalb sage ich gar nichts.
»Komm mit«, sagt Tam und beendet das Schweigen. »Schlagen wir uns den Bauch voll.«
»Nein!«, sage ich, weil mir alles, was wir erlebt haben, plötzlich wieder ganz deutlich vor Augen steht. »Wir haben keine Zeit, uns die Bäuche vollzuschlagen. Wir werden verfolgt, Viola, falls du das schon vergessen hast, von Leuten, die sich keinen Deut um dein Wohlbefinden scheren.« Und zu Hildy sage ich: »Ich bin überzeugt, dein Essen ist ganz wunderbar, aber ...«
»Todd, Jüngelchen ...«, unterbricht mich Hildy.
»Ich bin kein Jüngelchen!«, plärre ich los.
Hildy verzieht missbilligend den Mund, aber ihre hochgezogenen Augenbrauen zeigen, dass sie nachsichtig ist. »Todd, Kleiner«, beginnt sie erneut, diesmal ein wenig leiser. »Kein Mensch von jenseits des Flusses würde je seinen Fuß an dieses Ufer setzen, kapierst du das denn nicht?«
»Stimmt«, sagt Tam. »Genau so ist es.«
Ich schaue von einem zum anderen. »Aber ...«
»Seit mehr als zehn Jahren bewache ich diese Brücke«, fährt Hildy fort. »Und auch schon Jahre zuvor war ich die Wächterin. Zu meinen Aufgaben gehört es zu beobachten, ob jemand kommt.« Sie blickt zu Viola hinüber. »Niemand wird kommen. Ihr beide seid sicher hier.«
»Sag ich doch«, erklärt Tam und wippt auf den Zehen. »Trotzdem ...«, beharre ich, aber Hildy lässt mich erst gar nicht zu Wort kommen.
»Zeit für ein gutes Essen.«
Und damit ist, wie es scheint, das Thema erledigt. Viola meidet stur meinen Blick und hält die Arme vor der Brust verschränkt. Hildy hat den Arm um sie gelegt und gemeinsam gehen sie weg. Ich bleibe bei Tam, der darauf wartet, dass ich mitkomme. Ich kann nicht gerade behaupten, dass ich große Lust habe, auch nur einen Schritt weiterzugehen, aber alle anderen tun es, also tu ich’s auch.
Tam schwatzt unentwegt und macht so viel Lärm wie eine ganze Stadt.
»Hildy sagt, ihr habt unsere Brücke in die Luft gejagt.« » Meine Brücke«, mischt Hildy vor
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