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Die Flucht

Titel: Die Flucht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Ness
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reden.
    Wohl wahr, sie reden.
    »Reisen im Weltraum sind ganz anders, als du es von den Videos kennst«, sagt Tam und dabei rinnt ein Bächlein Bratensoße über seinen Bart. »Man braucht Jahre, Jahre und nochmals Jahre, um irgendwohin zu kommen. Vierundsechzig allein von der alten Welt bis hier zu uns in New World.«
    »Vierundsechzig Jahre?«, frage ich mit vollem Mund und versprühe dabei Klümpchen von Kartoffelmatsche.
    Tam nickt. »Die Reise verbringt man in einer Kältestarre, dabei vergeht die Zeit, ohne dass man es merkt, allerdings nur, wenn man unterwegs nicht stirbt.«
    Ich schaue Viola an. »Du bist vierundsechzig Jahre alt?«
    »Vierundsechzig Jahre in der alten Welt«, sagt Tam und rechnet mit den Fingern. »Das wären ... wie viele? Ungefähr achtundfünfzig, neunundfünfzig in New World ...«
    Viola schüttelt den Kopf. »Ich bin im Raumschiff auf die Welt gekommen. Ich habe niemals geschlafen.«
    »Dann muss entweder dein Vater oder deine Mutter ein Betreuer gewesen sein«, sagt Hildy und beißt ein Stück von einem rübenartigen Gewächs ab. »Das ist jemand, der wach bleibt und das Raumschiff kontrolliert«, erklärt sie mir dann.
    »Ja, mein Dad«, sagt Viola, »und vor ihm war es seine Mutter und davor sein Großvater.«
    »Moment mal«, sage ich, ein bisschen schwer von Begriff wie immer. »Wenn wir jetzt also ungefähr zwanzig Jahre in New World sind ...«
    »Dreiundzwanzig«, unterbricht mich Tam. »Kommt mir viel länger vor.«
    »Dann bist du aufgebrochen, noch ehe wir hier waren«, überlege ich weiter. »Genauer gesagt, dein Vater oder Großvater oder wer auch immer.«
    Ich blicke in die Runde, um festzustellen, ob noch jemand außer mir über diese Tatsache verblüfft ist. »Wieso?«, frage ich. »Wieso wolltet ihr hierher, ohne zu wissen, was euch erwartet?«
    »Warum sind die ersten Siedler gekommen?«, fragt mich Hildy. »Warum suchen Menschen überhaupt einen neuen Ort zum Leben?«
    »Weil man an dem Ort, an dem man bisher gelebt hat, nicht mehr länger bleiben will«, sagt Tam. »Weil es in deinem Heimatort so schlimm ist, dass du ihn verlassen musst.«
    »Wohl wahr, die alte Welt ist dreckig, gewalttätig und übervölkert«, sagt Hildy und wischt sich mit einem Tuch übers Gesicht. »Sie zerfällt in ihre Einzelteile, die Menschen dort hassen und töten sich, sie sind erst dann zufrieden, wenn sie auch noch den Letzten ins Elend gestürzt haben. Zumindest war es so vor vielen, vielen Jahren.«
    »Ich weiß nichts von der alten Welt«, sagt Viola, »ich selbst habe das nicht miterlebt. Mein Vater und meine Mutter ...« Sie verstummt.
    Ich denke darüber nach, wie es wohl ist, in einem echten Raumschiff auf die Welt gekommen zu sein. Wie es ist, zwischen Sternen aufzuwachsen und zu fliegen, wohin man will, statt auf einem abscheulichen Planeten festzusitzen, auf dem man nicht willkommen ist. Man kann überall hingehen. Wenn einem ein Ort nicht gefällt, sucht man sich einen anderen. Man ist frei, zu tun und zu lassen, was man will. Oh Mann, was könnte besser sein?
    Erst jetzt merke ich, dass alle am Tisch verstummt sind. Hildy streicht Viola über den Rücken, und Violas Augen sind voller Tränen, und sie wiegt sich wieder vor und zurück.
    »Was ist?«, frage ich. »Stimmt was nicht?«
    Viola verzieht das Gesicht.
    »Was ist?«, frage ich.
    »Ich denke, wir haben fürs Erste genug über Violas Eltern geredet«, sagt Hildy liebevoll. »Höchste Zeit, dass Mädchen und Jungs die Augen zumachen.«
    »Aber es ist noch gar nicht so spät«, protestiere ich und schaue aus dem Fenster. Die Sonne ist noch nicht einmal ganz untergegangen. »Wir müssen zur Siedlung ...«
    »Die Siedlung heißt Farbranch«, sagt Hildy. »Und morgen gehen wir gleich in aller Frühe dorthin.«
    »Aber diese Leute ...«
    »Wohl wahr, Junge, ich habe hier schon für Frieden und Ordnung gesorgt, als du noch gar nicht auf der Welt warst«, sagt Hildy freundlich, aber bestimmt. »Ich werde mit allem fertig, was kommt oder was nicht kommt.«
    Ich sage nichts und Hildy überhört einfach, was mein Lärm von sich gibt.
    »Darf ich fragen, was euch nach Farbranch führt?«, mischt Tam sich ein. Er pickt an seinem Maiskolben herum, und seine Frage klingt weit weniger neugierig, als sein Lärm vermuten lässt.
    »Nichts Besonderes, wir müssen einfach hin«, antworte ich.
    »Alle beide?«
    Ich sehe Viola an. Sie hat aufgehört zu weinen, aber ihr Gesicht ist verquollen. Diesmal beantworte ich Tams Frage nicht.
    »Nun

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