Die Flucht
uns sich ein.
»Stimmt, sie hat sie gebaut«, bestätigt Tam. »Nicht dass jemand sie jemals überquert hätte.«
»Niemand?«, frage ich und denke an all jene, die über die Jahre hinweg aus Prentisstown verschwunden sind, all jene, die auf einmal nicht mehr da waren. Keiner von ihnen ist also bis hierhergekommen.
»Recht ordentliches Bauwerk, diese Brücke«, redet Tam weiter, als hätte er mich nicht gehört, und vielleicht hat ermich ja wirklich nicht gehört, was kein Wunder wäre, so laut, wie er spricht. »Ein wenig schade ist es schon, dass sie jetzt nicht mehr da ist.«
»Uns blieb keine andere Wahl«, erkläre ich.
»Oh, es gibt immer mehr als nur eine Möglichkeit, Jüngelchen, aber nach allem, was ich gehört habe, hast du die richtige Entscheidung getroffen.«
Eine Weile laufen wir schweigend weiter. »Und du bist sicher, dass uns auf dieser Seite nichts passieren kann?«, frage ich noch einmal.
»Sicher ist gar nichts«, sagt er. »Aber Hildy hat Recht.« Er grinst, es ist ein trauriges Grinsen, wie ich finde. »Es sind nicht nur niedergebrannte Brücken, die die Menschen von dieser Seite des Flusses fernhalten.«
Ich versuche in seinem Lärm zu lesen, um herauszufinden, ob er die Wahrheit sagt, aber da ist es hell und klar, es ist ein angenehmer, warmer Ort, an dem alles, was man möchte, wahr sein könnte. Ganz anders als bei den Männern in Prentisstown.
»Das verstehe ich nicht«, überlege ich weiter. »Dann gibt es also verschiedene Arten von Lärmbazillen?«
»Klingt mein Lärm anders als deiner?« Tam scheint ernsthaft an einer Antwort interessiert zu sein.
Ich schaue ihn an und lausche eine Sekunde lang. Hildy und Prentisstown und Kartoffeln und Schafe und Siedler und undichtes Rohr und Hildy .
»Du denkst oft an deine Frau.«
»Sie ist der hellste Stern an meinem Himmel, mein Junge. Ich wäre untergegangen in meinem eigenen Lärm, hätte sie nicht ihre Hand ausgestreckt und mich gerettet.«
»Wie meinst du das ?«, frage ich verblüfft. »Bist du im Krieg gewesen?«
Die Frage trifft ihn unerwartet. Sein Lärm wird so grau und eintönig wie ein Regentag und ich kann gar nichts mehr darin lesen.
»Ich habe im Krieg gekämpft«, sagt er schließlich. »Aber Krieg ist nichts, worüber man in der freien Natur an einem schönen Sonnentag spricht.«
»Warum nicht?«
»Ich bete zu allen meinen Göttern, dass du das nie herausfinden musst.« Er legt mir eine Hand auf die Schulter und diesmal schüttle ich sie nicht ab.
»Wie machst du das ?«, frage ich ihn.
»Was ?«
»Dass du deinen Lärm so gleichförmig hältst, dass ich gar nichts darin lesen kann.«
Er lächelt. »Hab jahrelange Übung darin, gewisse Dinge vor einer alten Frau zu verheimlichen.«
»Deshalb kann ich seinen Lärm so gut lesen«, ruft Hildy von vorn. »Er wird immer besser im Verstecken, ich werde immer besser im Aufspüren.«
Beide lachen. Ich ertappe mich dabei, wie ich versuche Violas Blick zu erhaschen und dabei die Augen zu verdrehen wegen der beiden komischen Alten, aber Viola schaut nicht zu mir her und ich versuche es kein zweites Mal.
Der Pfad ist jetzt nicht mehr ganz so steinig, er führt zu einer letzten Anhöhe, und plötzlich liegt eine Farm vor uns, ein sanft geschwungenes Gelände mit Weizen- und Kohlfeldern und einer Weide mit ein paar Schafen.
»Hallo, Schafe!«, ruft Tam.
»Schaf!«, antworten die Schafe.
Zuerst kommen wir zu einer großen Holzscheune, wetterfest und massiv gebaut wie die Brücke. Sie würde, wenn nötig, für alle Zeiten hier stehen.
»Wohl wahr, aber nur, wenn ihr sie nicht in die Luft jagt«, sagt Hildy vergnügt.
»Das möchte ich mal sehen, wie die Frischlinge sich damit abplagen«, erwidert Tam lachend.
Langsam gehen sie mir ein bisschen auf die Nerven, weil sie über jede verdammte Kleinigkeit lachen.
Dann kommen wir zum Farmhaus, das völlig anders aussieht als gewohnt.
Es scheint aus Metall zu sein wie die Tankstelle und die Kirche bei uns zu Hause, ist allerdings viel weniger zerbeult. Ein Teil des Hauses glänzt und blitzt und schwingt sich wie ein Segel himmelwärts, auch einen Schornstein gibt es, er ist seltsam gebogen und oben abgeknickt und Rauch steigt aus ihm auf. Der andere Teil ist aus Holz, er wurde direkt an das Metall angebaut und ist ebenso massiv wie die Scheune, hat jedoch eine ganz eigenartige Form ...
»Flügel!«, rufe ich verwundert.
»Stimmt, es sind Flügel«, sagt Tam. »Und weißt du auch, zu welchem Vogel sie gehören?«
Ich
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