Die Fluchweberin
er die Tür aufzog. Dahinter war es dunkel. Skyler tastete nach einem Lichtschalter. Als er ihn schließlich fand, flackerte eine nackte Glühbirne auf, die in der Mitte des Raumes von der niedrigen Decke hing. Das schmutzige gelbe Licht erreichte kaum die Wände.
Ein strenger Geruch erfüllte die Luft. Süßlich mit einem Hauch von Schwefel, als hätte der Teufel persönlich diesem Dachboden einen Besuch abgestattet. Wahrscheinlicher war es aber wohl, dass irgendwo eine tote Ratte lag. Auch Skyler war der Gestank nicht entgangen. Er verzog das Gesicht, sagte jedoch nichts. Igitt, wann hatte hier jemand zum letzten Mal gelüftet?
Die Hand vor Mund und Nase haltend, sah ich mich um.
Der Raum war voll mit Kleiderständern auf Rollen, bis unter die Decke gestapelten Kisten, alten Bühnenbildern, Stoffbahnen und mehreren Truhen.
»Was soll das sein?«, fragte Skyler.
»Der Theaterfundus.« Bis vor ein paar Jahren hatte Holbrook Hill eine aktive Theatergruppe gehabt, mit der Zeit jedoch war das Interesse daran erloschen, da kaum jemand zur Vorstellung kam. Das Internat war einfach zu abgelegen, um Besucher anzulocken, und an den Besuchstagen hatten die meisten Schüler und ihre Freunde und Verwandten anderes im Sinn, als sich ein paar Stunden schweigend in eine drittklassige Aufführung zu setzen. Nach einigen Jahren, in denen die Beteiligung immer weiter schwand, war die Theater-AG schließlich aufgelöst worden. Und hier waren ihre Überreste begraben.
»Max?«, rief ich.
Keine Antwort.
Skyler schob sich weiter in den Raum hinein, blickte in Schränke und hinter Kulissen, öffnete eine Truhe nach der anderen, als erwartete er, Max zwischen den Requisiten zu finden. Ich streifte ziellos hin und her, wieder mehr mit der Frage beschäftigt, ob das der geeignete Zeitpunkt wäre, mich davonzumachen, als damit, wo Max steckte.
In einer Ecke stand eine massive Eichenholztruhe, unter deren Deckel ein Stück Stoff herausragte. Grüner Stoff in der Farbe unserer Schuluniformen. Vielleicht ein Blazer. Ich deutete darauf. »Sieht so aus, als hätte dich dein Hokuspokus zu einem Haufen ausrangierter Klamotten geführt.« Vielleicht war auch etwas dabei, das Max einmal getragen hatte, und der Zauber hatte deshalb darauf angesprochen. Und während wir hier nach ihm suchten, feierte er irgendwoeine Party. »Wenn du wieder in der Zentrale bist, solltest du dir den Zauber vielleicht noch einmal erklären lassen.«
Skyler war stehen geblieben und sah die Truhe an. »Er muss hier sein«, sagte er, wobei es ihm nicht gelang, die Frustration aus seiner Stimme zu bannen. »Ich habe alles richtig gemacht.«
»Sicher.« Ich hob den Deckel der Truhe an, ohne den Blick von Skyler abzuwenden. Es war kindisch, aber sein Gesicht zu sehen, wenn er sich eingestehen musste, dass er sich geirrt hatte, verschaffte mir eine gewisse Befriedigung. »Sieht nicht nach richtig gemacht aus.«
Seine Augen ruhten noch immer auf der Truhe. »Ich fürchte doch.« Er schob sich an mir vorbei, nahm mir den Deckel aus der Hand und klappte ihn ganz nach hinten. »Komm her.«
»Was? Warum?«
Da bemerkte ich den Gestank, der aus der Truhe aufstieg. Ich unterdrückte ein Würgen und richtete, eine Hand immer noch vor Mund und Nase, meinen Blick auf das Innere der Truhe, halb erwartend, die verendete Ratte zu sehen.
Ich sah einen ausgebreiteten Blazer über ein paar Decken.
Ich sollte gehen, sollte sehen, dass ich fortkam. Fort von dem Gestank, der sich immer intensiver in meiner Nase festsetzte, und von Skyler. Stattdessen griff ich nach dem Blazer und zog ihn zur Seite. Was wie mehrere Decken ausgesehen hatte, war tatsächlich nur eine einzige. Ich hatte eine Ecke davon zusammen mit dem Blazer erwischt und sie angehoben. Darunter kam ein bleiches Gesicht zum Vorschein.
»Oh mein Gott!«
Wie versteinert starrte ich in Max’ reglose Züge. Die Haut war weiß, fast wächsern, darunter zeichneten sich die Venen wie Flüsse auf einer Landkarte ab. Seine Lippen schimmerten bläulich. In seinem Mundwinkel hing ein Blutstropfen,war darin getrocknet wie ein deplatzierter Schönheitsfleck. Das Schlimmste jedoch waren seine Augen. Starr und leblos. Weit aufgerissen, als hätte ihn der Tod vollkommen überrascht.
Skyler nahm mir den Stoffzipfel aus der Hand und riss die Decke fort. Ein Schwall von Verwesungsgeruch stieg auf dem entstandenen Luftzug empor und ließ mich erneut würgen. Trotzdem konnte ich meine Augen nicht von der Leiche lösen.
Wer auch immer
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