Die Fluchweberin
nicht loslassen. Daran änderte sich auch im Laufe des Tages nichts. Immer wieder griff ich während der kommenden Stunden nach meinem Hals. Jedes Mal fasste ich ins Leere, obwohl ich mir sicher war, dass meine Finger etwas erfassen müssten. Das machte mich so verrückt, dass ich einmal sogar während derStunde das Klassenzimmer verließ und in den Waschraum ging, um mich im Spiegel davon zu überzeugen, dass da wirklich nichts war.
Natürlich war da nichts.
Ein wenig erinnerte es mich an eine Nervenreizung, die ich einmal in der Hand gehabt hatte. Damals hatte es sich so angefühlt, als würde mich ein loses Haar an der Hand kitzeln, doch egal wie genau ich auch hinsah und wie gründlich ich suchte – da war nichts. Im Internet hatte ich schließlich die Sache mit der Nervenreizung herausgefunden und am nächsten Tag war es zum Glück auch wieder vorbei gewesen.
Vielleicht hatte ich mir im Schlaf immer wieder an den Hals gefasst, ohne es zu bemerken, und dabei die feinen Nervenenden unter der Haut gereizt. Egal wie ich das geschafft hatte, bis morgen wäre es sicher vorbei.
Dieser ganze verflixte Tag war der reinste Horror. Am Morgen war ich im Eiltempo von meinem Zimmer zum Frühstückraum gelaufen, wo Skyler mich wie gewohnt erwartete. Natürlich wollte er wissen, wie es mir ging, doch er schien auch zu spüren, dass es mir zu viel wurde, wenn er mich mit seiner Fürsorge überschüttete, und nahm sich entsprechend zurück. Trotzdem war er da. Er wich den ganzen Tag über nicht von meiner Seite und hätte mich vermutlich sogar in den Waschraum begleitet, wenn ich ihn nicht davon abgehalten hätte. Statt mit mir hineinzugehen, schickte er Lily vor, damit sie abcheckte, ob die Luft rein war. Sie, Ty und Mercy wussten mittlerweile, was passiert war, doch außer Max schienen sie die Einzigen zu sein. Ein Thema, das sich während des Tages zwischen Skyler und mir zu einem Streitpunkt entwickelte.
»Ich bin der Meinung, dass du sie melden solltest«, sagte Skyler am Nachmittag zum gefühlt hundertsten Mal. »Ichkann dir nicht auf Schritt und Tritt folgen. Auch wenn ich das gerne möchte, setzen mir die Internatsregeln doch gewisse Grenzen. Abgesehen davon muss Kim dafür, was sie getan hat, bestraft werden.«
Wie sollte ich ihm erklären, dass es nichts an meinen Problemen ändern würde, wenn ich Kims Übergriff meldete? Skyler, sie ist besessen und wird wieder versuchen mich umzubringen, egal wie viele Strafarbeiten man ihr aufbrummt. Dafür gab es keine vernünftige Erklärung. Zumindest keine, die mich nicht ebenfalls in Schwierigkeiten brachte. Ich musste Zeit gewinnen. Genug Zeit, um herauszufinden, was mit Kim passiert war, und die ganze Sache wieder geradezubiegen. Wenn ich Glück hatte, wäre der Vorfall von gestern bis dahin in Vergessenheit geraten.
»Ich werde darüber nachdenken, okay?«
Einen Moment lang sah es so aus, als wollte er widersprechen, dann aber nickte er. »Okay, aber lass dir nicht zu lange Zeit, sonst werde ich sie melden.«
Es war nicht das, was ich wollte, aber es war besser als nichts.
Während des Tages erwischte ich mich immer wieder dabei, dass ich mich nach allen Seiten umsah oder verstohlene Blicke über meine Schulter warf. Jedes Mal rechnete ich damit, Kim mit den merkwürdig dunklen Augen zu erblicken, die im Begriff war, mich aus dem Hinterhalt anzuspringen.
Was nicht der Fall war und sie vor all diesen Zeugen wohl auch nicht machen würde.
Tatsächlich schien auch Kim mir aus dem Weg zu gehen. Wir hatten heute keinen gemeinsamen Unterricht und zum Essen tauchte sie erst kurz vor Ende der Essenszeiten auf, als ich gerade den Speisesaal verließ. Nur ein einziges Mal begegneten wir uns auf dem Flur. Als sie mit ihrem Gefolge an mir vorüberging, trafen sich unsere Blicke, und für einenMoment hatte ich das Gefühl, dass sie unter den gestrigen Ereignissen mindestens genauso litt wie ich. In ihren Augen glaubte ich eine Mischung aus Verwirrung und Schuldgefühlen zu erkennen, gepaart mit hilfloser Wut. Einer Wut, die sich vermutlich auf mich konzentrierte, da sie in mir den Auslöser für ihre Schwierigkeiten sah.
Die bloße Vorstellung, dass die echte Kim ebenfalls wütend auf mich sein könnte, veranlasste mich dazu, noch paranoider zu werden und mich noch häufiger nach allen Seiten umzudrehen.
Bis zum Nachmittag hatte meine Angst vor dem Alleinsein nicht nachgelassen, sodass ich Skyler sogar zu seinem Basketballtraining in die Sporthalle begleitete. Sonst hätte
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