Die Flüchtende
rund um den Tisch zu, aber jedes Mal, wenn sich ihre Blicke begegneten, sanken ihr die Mundwinkel herab, als ob sie der Schwerkraft nicht widerstehen könnten.
Da, in eben diesem Moment, in dem sie dasaß und darauf wartete, dass eine ausgeklügelte Bestrafung erfolgte, spürte Sibylla, dass es genug war. Ein ersehnter Zorn erfüllte sie mit unglaublicher Kraft. Diese Frau, die ihr schräg gegenübersaß und sie wie eine Gefangene in ihrem eigenen Dasein hielt, verwandelte sich plötzlich in ein absurdes Monster. Sie war aus ihrem
Leib geboren worden. Na und? Sie hatte sich das nicht ausgesucht. Warum Gott diese Frau ein Kind hatte zur Welt bringen lassen, war ein Mysterium. Alles, was ihre Mutter eigentlich hatte haben wollen, war ein Symbol für die Vortrefflichkeit der Forsenström'schen Familie. Dafür, dass alles so war, wie es sein sollte. Aber es war nichts so, wie es sein sollte. Sibylla wurde plötzlich klar, dass ihre Mutter das ausgefuchste Spiel aus Gehorsam-Züchtigung-Strafe genoss, das sie in ihrem Hause zum Leitstern erkoren hatte. Dass sie es genoss, sie zu besitzen. Ihren Gemütszustand beeinflussen zu können. Über ihre Angst zu herrschen.
«Wie geht es denn jetzt so in der Schule?»
Der Verkaufschef stellte seine alljährliche Frage, an deren Beantwortung er eigentlich genauso interessiert war wie an dem Dreck unter seinen Schuhen.
«Danke», antwortete sie laut und deutlich. «Wir saufen und vögeln meistens.»
Zuerst nickte er wohlwollend, im nächsten Moment aber rutschte die Antwort in seinem kleinen Kopf an die richtige Stelle. Er sah sich verwirrt um. Um die erhöhte Ehrentafel herum wurde es totenstill. Ihr Vater sah sie an, als ob er nicht wüsste, was Vögeln bedeutete, und die Gesichtsfarbe ihrer Mutter wechselte ins Lila. Sibylla war völlig ruhig. Lediglich die Umgebung drehte sich. Vor ihr stand das eben nachgefüllte Schnapsglas des Verkaufschefs, das nahm sie und erhob es, um ihrer Mutter zuzutrinken.
«Zum Wohl, Mama! Du möchtest dich vielleicht gern auf einen Stuhl stellen und für uns ein Weihnachtsliedchen singen. Das wäre doch reizend, finden Sie nicht auch?»
Sie stürzte den Schnaps hinunter. Im Saal war es jetzt absolut still. Sie stellte sich hin.
«Was meinen Sie? Wäre es nicht reizend, wenn die kleine Beatrice für uns ein Liedchen singen würde?»
Im ganzen Saal gab es kein einziges Augenpaar, das nicht auf sie gerichtet war.
«Willst du nicht? Aber Liebes, das spielt doch keine Rolle. Du kannst doch dieses unflätige Lied vortragen, das du abends in der Küche immer singst.»
Jetzt löste sich ihr Vater aus seiner Erstarrung und seine Donnerstimme hallte durch den Saal.
«Du setzt sich sofort hin, mein Kind!»
Sie wandte ihm das Gesicht zu.
«Sprichst du mit mir? Ach ja, du bist wohl mein Vater, oder? Mir ist doch so, als hätte ich dich schon einmal zu Hause bei Tisch gesehen. Ich bin Sibylla.»
Er riss den Mund auf und starrte sie an.
«Na. Wenn das hier nicht mehr amüsanter wird, dann werde ich jetzt wohl gehen. Ich hoffe, ihr habt noch einen schönen Abend.»
Sechsundsiebzig Augenpaare folgten ihr, wie sie von der Bühne herab und zwischen den Tischen hindurch hinaus in die Freiheit ging.
Als sie die Tür hinter sich schloss, hatte sie das Gefühl, den ersten reinen Atemzug ihres Lebens zu tun.
D ie Zeitung hatte sie in der U-Bahnstation Ropsten in den erstbesten Papierkorb geworfen. Da sie fürchtete, Aufmerksamkeit zu erregen, hatte sie es nicht riskiert, sich über den Bahnsteig des Lidingözuges hineinzuschleichen, sondern ihrem Brustbeutel noch einen geheiligten Zwanziger entnommen.
An diesem Tag hatten die Stockholmer Verkehrsbetriebe mehr an ihr verdient als in insgesamt fast fünfzehn Jahren.
Es war halb zwölf und in dem Wagen waren recht wenige Leute. Nachdem der Zug in den Tunnel eingefahren war, be- trachtete sie ihr fremdes Spiegelbild in der Fensterscheibe. Dies Aussehen würde ihr hoffentlich einen kleinen Aufschub verschaffen. Wenigstens bis ihr eingefallen wäre, was sie machen sollte.
Als Erstes würde sie auf jeden Fall das Geld aus ihrem Postfach holen. Jedes Ore, das sie von ihren Ersparnissen genommen hatte, musste wieder in den Beutel zurück. Den würden sie ihr jedenfalls nicht nehmen können.
Ihr Postfach.
Verfluchte Scheiße.
Die Einsicht durchfuhr sie wie ein Schlag. Sie war drauf und dran, direkt in die Falle zu laufen. Wie um alles in der Welt hatte sie nur so dumm sein und daran nicht denken können? Die
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