Die Flüchtende
Wahrscheinlichkeit, dass die Polizei ihren einzigen Fixpunkt im Dasein bis jetzt noch nicht kannte, war minimal. Ihr Postfach, es war in dem einzigen Register aufgeführt, in dem sie ihren Namen finden konnten. Natürlich hatten sie es entdeckt.
Als ihr aufging, was es bedeutete, dass sie künftig ihr Geld nicht mehr holen könnte, überkam sie eine unbändige Wut.
Sie ballte die Fäuste und fühlte die Angst dahinschwinden. Das konnten sie nicht mit ihr machen! Ihren Namen einfach so an die Zeitungen zu geben, musste allein schon gegen alle Regeln verstoßen. Wäre sie eine respektable Person gewesen, die den anerkannten Normen gemäß lebte, wäre sie niemals auf diese Weise angeprangert worden.
Sie hatte nie etwas von der Gesellschaft verlangt und gedachte das auch in Zukunft nicht zu tun.
Jetzt würde sie nichts mehr einstecken.
Jetzt war Krieg.
Thomas' Boot lag unten bei Mälarvarvet auf Längholmen. Sie war bei Hornstull aus der U-Bahn gestiegen und befand sich jetzt auf der Brücke über den Pälsundet. Thomas war der Einzige, dem sie so weit traute, dass sie ihn um Hilfe bitten mochte. Vorzehn Jahren, bevor er das Boot erbte, hatten sie unten im Industriegebiet von Lugnet zusammen in einem Wohnwagen gehaust. Wenn die Polizei in regelmäßigen Abständen mit einem Räumungsbefehl kam und sie vertreiben wollte, hatten sie den Wagen eigenhändig ein paar Meter weitergeschoben und den nächsten Räumungsbeschluss abgewartet. Im Großen und Ganzen hatte man sie aber in Ruhe gelassen. ,
Um Liebe war es dabei vielleicht nie gegangen, eher um das Verlangen nach Nähe und Gesellschaft. Das war das Einzige, was sie einander geben konnten, und damals hatte das auch ausgereicht.
Zuerst konnte sie sein Boot nirgends sehen. Es war mehrere Jahre her, seit sie zuletzt hier gewesen war, aber als sie kehrtmachte und zurückging, entdeckte sie es an der Seeseite eines grauen Militärbootes. Am Kai herrschte offensichtlich Platzmangel.
Sie nahm den Rucksack ab und stellte ihn auf ein paar Holzpaletten, damit er am Boden nicht nass wurde.
Plötzlich wurde sie unschlüssig.
Jetzt, da sie hier war, war sie sich gar nicht mehr so sicher. Thomas war zuverlässig, das wusste sie, allerdings nur, solange er nüchtern war. Hatte er Alkohol intus, war er ein ganz anderer Mensch. Sie trug selbst mehrere Spuren, die das bezeugten. Sie holte tief Luft und ballte die Fäuste, um zu versuchen, die Kraft wiederzuerlangen, die sie vorhin in der U-Bahn verspürt hatte.
«Thomas!»
Sie sah sich um. Der Kai lag verlassen da.
«Thomas! Ich bin es, Sylla.»
Über der Reling des Militärbootes tauchte ein Kopf auf. Zuerst erkannte sie ihn kaum wieder. Er hatte seit dem letzten Mal seinen Bart gestutzt. Im ersten Moment wirkte er konfus, aber dann erhellte ein Lächeln sein Gesicht.
«Manno! Läufst du immer noch frei rum?»
Sie konnte nicht umhin, sein Lächeln zu erwidern.
«Bist du allein?»
«Ja, Mensch.»
Er machte keine Anstalten, sie hineinzubitten. Aber er war nüchtern. So gut kannte sie ihn.
« Darf ich reinkommen?»
Er antwortete nicht gleich, sah sie aber an und lächelte.
«Kann man das wirklich wagen?»
«Hör auf! Du weißt genau, dass ich das nicht war.»
Sein Lächeln wurde breiter.
«Komm schon. Aber du musst alle spitzen Gegenstände oben auf Deck ablegen.»
Das Gesicht verschwand hinter der Reling und sie nahm ihren Rucksack. Thomas war ein Freund. Womöglich ihr einziger. Im Moment bedeutete das mehr denn je.
Er hatte die Luke offen gelassen, und sie reichte ihm den Rucksack hinunter, bevor sie die Stufen hinabstieg.
Unter Deck gab es nur einen einzigen alten Laderaum, der jetzt sowohl als Schreinerwerkstatt als auch zum Wohnen diente. Der Fußboden war mit Sägespänen und Holzabschnitten bedeckt und machte nicht den Eindruck, in diesem Jahrhundert schon einmal sauber gemacht worden zu sein.
Das ließ darauf schließen, dass er zurzeit wenigstens mit niemandem zusammenlebte.
Und das war gut.
Er folgte ihrem Blick und sah sich um.
«Ja. Es sieht wohl in etwa so aus wie damals, als du zuletzt hier warst.»
«Nein, da war nicht frisch geputzt.»
Er grinste und ging in dem Teil, der den Küchenteil darstellen sollte, an die Kaffeemaschine. Ein Tisch, drei ungleiche Stühle, ein Kühlschrank und ein Mikrowellenherd. Leere Flaschen konnte sie allerdings nicht entdecken. Auch das war gut.
« Einen Schluck Kaffee?»
Sie nickte und er leerte die paar Tropfen, die noch in der Kanne waren, in einen
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