Die Flüchtlinge des roten Mondes
gesehen?“ Dane hatte sie gesehen, aber offensichtlich nicht aufmerksam genug studiert, und Dravash hatte brummend und mit wütendem Nachdruck wiederholt: „Sie benutzen keinerlei Schleuderwaffen! Das ist ihr stärkstes Tabu … selbst den Kindern bringt man bei, daß es unehrenhaft und niedrig ist, einen Stein zu werfen!“
Es war das erste Mal, daß Dane von einem Tabu gegenüber einer effektiven Waffe hörte. Es verwirrte ihn, aber er hatte noch eine Menge zu lernen, und dessen war er sich auch bewußt.
Sie wandten sich der Straße zu. Man hatte große, weißliche Steinblöcke ohne jeden Mörtel zusammengefügt, aber so eng, daß Dane meinte, es passe wohl kaum eine Messerklinge in die Zwischenräume. Er erinnerte sich daran, wie man ihm erzählt hatte, daß die Straße zu irgendeinem Zeitpunkt der Geschichte des Planeten konstruiert wurde, indem man Mauern in Gräben baute. Die äußeren Erdwälle waren schon lange abgetragen, und die unzähligen Füße von Generationen hatten den Stein zu einer sanften Rundung getreten. Der vor kurzem gefallene Regen hatte etwas Wasser am Grunde des Kanals hinterlassen – nicht genug, um durch die Öffnungen abzufließen, die man hineingehauen hatte, um das Wasser abzuleiten. Sie waren zwar schon vor langer Zeit angelegt worden, waren aber nicht so alt wie die Straßen selber. Die beiden Protosaurier spritzten durch das Wasser und genossen offensichtlich den Schlamm an den Lederfüßen, ebenso wie ein Stadtbewohner es genoß, wieder auf Gras zu laufen. Dane und Rianna gingen jedoch am Rande der Steine entlang, wo sie ihren Weg über breiter werdende Ritzen suchten, wo sich der Dschungel vorfraß und Ranken sich ihren Weg in die einst engen Zwischenräume zwischen den Steinen gebahnt hatten. Doch waren die Übergriffe des Dschungels vor kurzem zurückgestutzt worden – Dane vermutete, dies sei die gemeinsame Aufgabe der verschiedenen Stämme und Städte, deren Karawanen diese Straße benützten. Jeder Transport erledigte seine Aufgabe, indem er den wuchernden Dschungel zurückdrängte.
Entlang des Flusses war der Rand frei, und Dane trat von der Straße und untersuchte den schlammigen Boden nach Spuren. Seit er wußte, daß sonst niemand in der Gruppe Spuren wahrnehmen konnte, hatte er sich daran begeben, die Abdrücke der einheimischen Tiere unterscheiden zu lernen. Die Ähnlichkeiten mit der irdischen Fauna halfen ihm dabei, doch mehr noch stimulierte diese Beschäftigung mit örtlicher Ökologie seine Erinnerung an die Informationsflut, die man hypnotisch in seinen Kopf gestopft hatte. Das war vernünftig. Wenn man eine Fähigkeit einsetzt, verbessert sie sich.
Jedoch würde es sicher Menschen auf der Erde geben, die über seine geringen Fähigkeiten, Spuren zu lesen, gelacht hätten, Menschen, die eine Spur fortlaufend lesen konnten, wo er nur formlose Kratzer im Schmutz erkannte. Doch einige Abdrücke im Schlamm am Ufer waren deutlich. Hier gab es eine Reihe von dreizehigen, netzartigen Eindrücken, die er dem Aporra zuschrieb, und er hatte überhaupt keine Schwierigkeiten, die Tatzenabdrücke der Rasha zu erkennen und ihre Geschichte zu verstehen. Das Tier war aus dem Dschungel getreten, war am Ufer stehengeblieben, um zu trinken, und kurz hinauf auf die Straße geklettert. Dane sah die nassen Flecken am Rand der Steine, wo er – oder sie; die weiblichen Rasha waren ebenso groß und noch gefährlicher – Wasser über die Steine verbreitet hatten. Die schwach erkennbaren Spuren führten über die Straße und in den Dschungel vor ihnen. Dane fragte sich beunruhigt, ob die Tarnkatze vor ihnen auf sie wartete, und vergewisserte sich, ob sein Schwert locker saß. Er öffnete den Mund, um die anderen zu warnen – jetzt, da sie sich auf einer von Menschen erbauten Straße befanden, mochten sie denken, sie hätten nun den Dschungel hinter sich gelassen und –, als Rianna stehenblieb und sich zu ihm umwandte.
„Hör mal“, sagte sie. „Was ist das für ein Geräusch?“
Dane lauschte und vernahm ein fernes, melodisches Klingeln wie von Schlittenglocken. Nikolaus, komm in unser Haus … Das Geräusch war lächerlich unter der glühenden Sonne, die ihm den Schweiß auf die Stirn trieb. Die von den Steinen zurückgeworfene Sonne stieg unter seinem Rock hoch, und er fühlte sich, als stünde er über einem brennenden Kohlenbecken.
Die muschellosen Ohren der Protosaurier konnten entfernte Geräusche nicht so gut aufnehmen. Erst einige Minuten später hob Dravash den
Weitere Kostenlose Bücher