Die Flüchtlinge
befand sich zudem ständig in wichtigen Anhörungen, von denen viel für uns alle abhing. Hätte sie Althing Green verlassen, hätten wir weitere fünf Jahre warten müssen – oder noch mehr. Das redeten wir uns jedenfalls beständig ein. Wir versicherten uns gegenseitig, daß unsere Handlungsweise in Ordnung sei, und trugen die Zweifel still mit uns herum.
Ozchan hätte an sich wieder gehen können. Es gab nichts mehr, was er für Jason hätte tun können. Trotzdem blieb er. Meya gab bekannt, daß sie schwanger war. Hoku bestätigte es. Drei Tage später heiratete sie Ozchan mit der Begründung, daß Jason es gerne so gesehen hätte.
Nun, warum nicht? Tabor und ich unterhielten uns an diesem Abend über Meya und Ozchan, Hokus Praxis, das Größerwerden Havens, die Expansion der Aerie-Kennerin-Gesellschaft, unsere Zwillinge und deren Fortkommen in der Schule und diverse Haushaltsangelegenheiten. Wir sprachen über Bücher, die er gelesen hatte oder an die ich mich erinnerte, über Musik, Landwirtschaft und Philosophie. Das Gespräch kam mir nicht einmal ungewöhnlich vor, und irgendwie zerbrach das Schweigen, mit dem ich ihn so lange umgeben hatte. Wir liebten uns. Wenn ich arbeitete, lauschte ich den Klängen seines Flötenspiels oder dem Tappen seines Stockes im Haus. Irgendwann, eines Nachts, fragte ich mich, wie das Leben wohl sein würde, wenn er nicht mehr bei mir wäre – und er anstelle von Jason ohne Bewußtsein in diesem Bett läge. Diese Vorstellung entsetzte mich und erfüllte mich mit Mitleid für meine Mutter. Der Gedanke an das, was sie nach ihrer Rückkehr hier vorfinden würde, erschreckte mich.
Wir sprachen nicht von Heirat. Dieser Punkt schien seine Wichtigkeit verloren zu haben. Was uns miteinander verband, war weitaus stärker als das, was eine Zeremonie hervorrufen konnte, und viel wichtiger als gesprochene Worte oder unterschriebene Formulare. Jason hatte einmal von der Gewißheit der Dinge gesprochen. Jetzt wußte ich, was er damit meinte.
Hoku und Ozchan machten eine gemeinsame Praxis auf. Zu Anfang traute Ozchan in Haven niemand.
Er meinte, daß sei zu erwarten gewesen; sie habe den Leuten dermaßen eingeheizt, daß sie nun nur noch ihre Meinung gelten ließen und nur ihre Behandlungsmethoden für wirksam hielten. Hoku widersprach ihm nicht.
Und dann kam Jes zurück. Er hörte sich unsere Geschichte an, dann ging er schweigend hinaus und betrat Jasons Zimmer über die Treppe. Meya strich sich über den Bauch und folgte ihm. Ozchan erhob sich ebenfalls, aber ich schüttelte den Kopf und ging selbst. Mir war aufgefallen, daß Jes Meyas Mann mit einem kalten, harten Blick gemustert hatte.
Jes stand neben Jasons Bett, hatte die Fäuste geballt und starrte seinen Vater an. Ich blieb in der offenen Tür stehen und war bereit, mich auf meinen Bruder zu stürzen, sollten die Umstände es erfordern. Meya musterte ihn ruhig und traurig.
„Jason?“
Jason sah aus, als sei er am Rande des Erwachens. Seine Arme baumelten an ihm herab. Sein Gesicht zeigte keine Gefühlsregung. Wie üblich, wie immer. Nicht einmal seine Lider bewegten sich.
„Jason?“
Meya streckte über das Bett hinweg die Arme nach ihrem Bruder aus.
„Jessie, bitte …“
„Wie konntest du nur?“ schrie er. „Ausgerechnet du, Meya! Wie …“ Er hielt inne und wandte sich abrupt um. Er verbarg sein Gesicht in den Händen. Meya stand auf und legte eine Hand auf seinen Arm.
„Jes …“
Er wirbelte mit geballten Fäusten herum, aber als seine Hand ihre Wange berührte, hatte er sie wieder geöffnet und streichelte sie mit großer Zärtlichkeit. Meya küßte seine Finger. Dann stieß er sie zurück und rannte hinaus.
Ich fing Meya ab und beruhigte sie.
„Ist mit dir alles in Ordnung? Geht es dir gut?“
„Es tut mir so leid“, sagte sie leise. Ich hielt sie einen Moment im Arm und ging dann wieder hinunter.
Bevor wir Jes etwas von Drake und Meya erzählen konnten, ging er zur Funkbude am Landeplatz und gab eine Eilnachricht an Mish durch und informierte sie über alles. Ich glaube, daß sie sich länger als eine Stunde miteinander unterhalten haben, denn die Rechnung belief sich auf siebenhundert Fremark. Schließlich kam Jes vom Landeplatz zurück. Er hatte eine beglaubigte, zweifach unterschriebene Botschaft von Mish bei sich, die sehr kurz war und gleich zur Sache kam. Sie lautete: „Schaltet ihn ab.“
Das Gesetz war auf ihrer Seite. Und moralisch war sie auch im Recht. Jes rief uns im Wohnzimmer
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