Die Flüchtlinge
nicht.“
Ozchan sah auf. Jetzt war Jes an der Reihe, nach unten zu blicken.
„Sie sagte, es sei vorbei – dieser Teil jedenfalls. Sie sagte, sie habe nun dich und das Baby. Sie brauche jemanden, der immer da sei – nicht nur dreimal im Jahr. Sie will die wichtigsten Teile ihres Lebens nicht verbergen müssen. Möglicherweise hätte sie sich nicht geändert, wenn du nicht gekommen wärst. Ich war fest davon überzeugt, aber ich habe mich geirrt. Sie sagte, daß sie dich liebte, aber ich habe dieser Aussage zu wenig Beachtung geschenkt.“
„Durchzudrehen, wenn der Partner einen für eine Weile allein läßt“, wiederholte Ozchan.
„Ich habe ja nicht behauptet, bei Sinnen gewesen zu sein. Ich weiß, daß ich verrückt war.“
„Warst du etwa verrückter als ich?“
„Ich glaube, daß wir in dieser Beziehung gleichermaßen närrisch waren. Du hast einen Punkt bei mir gut“, sagte Jes.
„Laß uns die Sache vergessen. In dem Moment, wo Eidechsenficken und freitäglicher Fleischverzehr gleichwertige Sünden darstellen, fallen solche Kleinigkeiten wirklich nicht mehr ins Gewicht.“
Ozchan kletterte aus der Wanne. Kurz darauf folgte Jes ihm nach. Sie trockneten sich schweigend ab und stiegen in ihre Kleider. Jes kniete sich anschließend auf den Boden und suchte nach seiner Flöte. Als er wieder aufstand, legte Ozchan eine Hand auf seine Brust.
„Frieden?“
Jes sah ihn an. Dann bedeckte er Ozchans Hand mit seiner eigenen.
2. Mish
Meya kam in mein Arbeitszimmer, unterbrach mein Gespräch mit Hetch, und bevor ich sie zurechtweisen konnte, legte sie eine Hand auf meine Schulter.
„Komm mit“, sagte sie ernst. Ich folgte ihr.
Es war der erste Frühlingssonnenuntergang. Zum ersten Mal seit Winteranfang brachen die Wolken auf. Der Himmel entfaltete sich in seiner ganzen, farbigen Pracht: Er wurde rosa, rot, violett, dunkelblau, lila, blaßgrau. Der Regen hörte auf. Ich stützte mich mit den Händen am Geländer ab und kam mir vor wie ein Teil des Himmels, der Bäume und des auf die Saat wartenden Landes. Welche weitreichende und friedvolle Herrlichkeit. Die Sonne versank hinter dem Horizont, die Himmelsfarben lösten sich auf. Nur die Erinnerung an das Vergangene blieb in mir zurück.
„Das hätte Jason sehen sollen“, sagte ich, und mir fiel ein, daß er diesen Anblick kannte. Der Sonnenuntergang symbolisierte seinen Frieden, war sein Herzschlag, den ich spürte. Es war sein Geschenk an uns.
Meya legte eine Hand auf meine Schulter, und ich lächelte ihr zu und wandte mich ab, bevor ich den Ausdruck in ihrem Gesicht noch recht verstand. Sie sah ein bißchen sehnsuchtsvoll und verloren aus. Verlangend. Sie wirkte wie eine Waise, und mir wurde klar, daß sie das auf mehrere Arten war. Sie war stets Jasons Kind gewesen, nicht meins. Und das war einzig und allein meine Schuld.
Da ich nicht wußte, was ich sagen sollte, da mir einfach die Worte fehlten, wandte ich mich um und tätschelte ihren Arm. Ich hoffte, sie würde mein Versprechen auch so verstehen.
Erst als ich die Hälfte der Treppenstufen hinter mich gebracht hatte, wurde mir klar, daß es an diesem Abend wichtigere Dinge für mich zu tun gab. Ich brauchte nicht mehr mit Hetch zu reden. Ich konnte der besessenen Aktivität, in die ich mich seit meiner Ankunft gestürzt hatte, entsagen. Ich wollte den Tisch decken. Beim Abendessen helfen. Den Leuten etwas vorsetzen, mich mit ihnen unterhalten. Ich wollte sie alle von neuem kennenlernen. Zunächst ängstigte mich dieser Gedanke, aber dann fiel mir Jasons Geschenk – der Sonnenuntergang – wieder ein, und ich fühlte mich gleich besser. Ich ging ins Eßzimmer, in die Küche, tastete mich in ein neues Leben vor.
Jes kam nicht zum Essen. Das war keine Überraschung. Er hatte sich während des ganzen Winters kalt und abweisend verhalten. Sofort nach dem Essen ging Ozchan hinaus. Meya biß sich auf die Unterlippe und räumte ab. Statt hinaufzugehen, ging ich ihr zur Hand. Wir wußten immer noch nicht, aufweiche Weise wir miteinander sprechen sollten, aber die gemeinsame Arbeit schien etwas zu überbrücken. Ich hörte Tabors Flötenmusik, die den ganzen Raum einnahm. Die Zwillinge spielten. Hetch erzählte gerade eine spannende Geschichte. Ich lauschte einen Moment, um Jasons Stimme zu hören und wartete darauf, daß Laur die Kinder ausschimpfte. Einen Augenblick lang drehte sich die Welt im Kreise und verwirrte mich.
„Mish?“ sagte Meya.
Ich schüttelte den Kopf. Sie umrundete den
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