Die Flüchtlinge
Hart beiläufig. „Ihr habt immer so viel zu tun; ich wollte euch einfach nicht stören. Und es ist besser, als auf dem Schulhof herumzuhängen und mit den anderen irgendwelche blöden Spiele zu spielen. Ich lerne gern, aber manchmal ist es in der Schule einfach langweilig. Und es geht mir zu langsam voran.“ Er wandte sich Mish zu und sagte: „Es ist alles in absoluter Ordnung und völlig ungefährlich. Wir sezieren nur Pflanzen und tote Tiere. Du brauchst keine Angst zu haben, daß wir irgendwelchen Sprengstoff zusammenbrauen. Es macht mir Spaß. Ich würde auch gerne Biochemiker werden.“
Das konnte er, dachte ich, kaum auswendig gelernt haben. Die Worte kamen ihm leicht und unpathetisch über die Lippen und enthielten genau den richtigen Anteil von Ernsthaftigkeit. Aber es klang alles so verdammt glatt!
„Ich würde meine Studien nicht aufgeben wollen“, sagte Hart. „Etwas Interessanteres kann ich mir überhaupt nicht vorstellen.“
„Na schön“, sagte Mish hilflos. „Aber sag uns bitte, wo du herumhängst, ja? Es ist nicht so, daß wir um Erlaubnis gefragt werden wollen, aber wir wüßten gern, wo du bist. Damit wir dich finden können, wenn mal was passiert – im Falle einer Notsituation“, fügte sie lahm hinzu.
„Ich verstehe. Natürlich, ich werde es euch wissen lassen. Momentan bin ich nachmittags bei Gren. Wenn wir rausgehen, um Material zu sammeln, lege ich euch einen Zettel hin. Reicht das?“
Ich nickte. Hart schenkte uns ein strahlendes Lächeln und ging wieder nach oben. Ich setzte mich hin und versuchte mir darüber klarzuwerden, inwiefern seine letzte Antwort sarkastisch gemeint gewesen war.
„Bist du eigentlich sicher, daß er wirklich erst zehn Jahre alt ist?“ sagte ich zu Mish.
Sie nickte – ohne zu lächeln. „Vielleicht ist es so ganz gut für ihn. Möglicherweise sogar auch für Gren. Er ist in letzter Zeit sichtlich freundlicher geworden. Vielleicht liegt das sogar an Hart.“ Sie kniete sich hin und stocherte im Feuer herum. „Ich glaube, wir sollten ihn einfach gewähren lassen.“
„Es bleibt uns auch wohl gar nichts anderes übrig. Es liegt nämlich kein Grund vor, ihm etwas zu verbieten.“
Sie zuckte die Achseln. Wir gingen die Treppe hinauf und begaben uns zu Bett. Mish fiel schnell in einen tiefen Schlaf, aber ich verbrachte einen Großteil der Nacht damit, aus dem Fenster zu starren, den großen Halaeabaum zu mustern und das Abbild meines Sohnes zu vergessen, der vor uns stand und uns mit sorgfältig gewählten Worten beharrlich klarzumachen versuchte, daß es nichts gab, worüber man sich Sorgen zu machen brauchte. Erschöpft von der ganzen Nachdenkerei sagte ich mir schließlich, daß es wirklich nichts gab, was wir zu befürchten hatten. Dann schmiegte ich mich an Mish, vergrub mein Gesicht in ihrem duftenden Haar und schlief ein.
Dritter Teil
1223
Neuer Zeitrechnung
Leben erzeugen
„Menschen sterben von Zeit zu Zeit, aber wenn die Würmer sie fressen, tun sie das nicht aus Liebe.“
William Shakespeare, 1598
1
„Geh noch nicht.“
Quilla drehte sich um. Tabor legte einen Arm um ihre Hüfte. Da es noch dunkel im Zimmer war, konnte sie nicht sehen, ob seine Augen offen oder geschlossen waren.
„Es wird gleich hell“, sagte sie.
„Das dauert noch was. Bleib noch eine halbe Stunde.“
„Ich werde mich verspäten.“ Die Herbstnacht hatte den Raum abkühlen lassen. Quilla zog sich die Decke bis ans Kinn. Tabor, der neben ihr lag, fühlte sich warm und angenehm an. Sie drückte das Gesicht gegen seine Schultern und schloß die Augen.
Sie waren die ganze Nacht über wach geblieben und hatten sich ununterbrochen geliebt. Ihr beiderseitiges Verlangen war nun nur noch eine kleine, müde brennende Flamme, das eine zärtliche Umarmung befriedigen konnte. Quilla dachte kurz an den vor ihr liegenden Tag: Als erstes mußte sie den Stall reinigen. Am Nachmittag stand dann die Dorfgemeinschaftsversammlung an und am Abend das Ernte- und Rettungsfest. Bis dahin würden auch Mish und Jason zurück sein. Sie kuschelte sich tiefer in die Decken. Tabors Wange ruhte an ihrer Stirn. Sein Atem wärmte ihr Ohr.
„Ich bin froh, daß du einfach ausgerissen bist“, flüsterte er. „Ich wünschte, ich wäre selbst daraufgekommen.“
„Es ist drei Jahre her“, sagte Quilla. „Reden wir nicht mehr darüber.“
„Warum nicht?“ Er löste sich etwas von ihr. Es war schon etwas heller geworden, und Quilla konnte seine sich
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