Die Flüchtlinge
über sie beugende Silhouette ausmachen. Sie berührte seine Lippen mit der Spitze ihres Zeigefingers.
„Weil es nicht wichtig ist“, sagte sie und zog seinen Kopf wieder zu sich hinunter. „Aber ich freue mich darüber, daß du dich freust.“
Tabor küßte ihre Schulter. Sie fragte sich, ob er das Thema erneut zur Sprache bringen würde. Sie hatte keine Lust, darüber zu sprechen, weil die Sache sie daran erinnerte, wie jung sie damals gewesen war. Und auch jetzt noch. Vor drei Jahren noch war Aerie ihr vorgekommen wie eine Welt, in der alles wuchs und die Leute einander liebten und sich alles veränderte, während sie, die große, knochige Quilla Kennerin nichts anderes kannte, als diesem Wechsel zuzusehen. Mit der Ankunft der Flüchtlinge war ihre Kindheit zu Ende gegangen, und während ihre Eltern sich um die Leute gekümmert hatten, hatte ihre Arbeit darin bestanden, auf der Farm zu helfen. Als Meya zur Welt gekommen war, hatte Quilla sie in ihre Obhut genommen und aufgezogen. Die Pflanzung hatte Jason und Mish der Farm beinahe ganz entzogen, und im Alter von siebzehn Jahren war es Quillas Pflicht gewesen, sich um die Salate und Früchte zu kümmern, die die Familie am Leben erhielten. Des weiteren hatte sie sich mit dem Vieh und den zwanzig bis dreißig Kasiren befaßt, die auf der Farm arbeiteten und die Herde hüteten. Sie war nicht mit den Flüchtlingskindern zur Schule gegangen, denn ihre Eltern hatten gesagt, sie wisse bereits genug, und außerdem werde sie zu Hause gebraucht. Sie hatte einfach keine Zeit gehabt, die Schule zu besuchen. Mit dem Herumstromern, den Ausflügen und Festen war es ebenfalls vorbei gewesen. Irgend etwas war immer für sie zu tun gewesen. Hart hielt sich stets abseits von der Familie. Er vergrub sich in seinen Studien. Jes unterdrückte sein Verlangen, an Bord von Hetchs Sternenschiff Abenteuer zu erleben. Meya trieb sich überall herum. Wenn sie nicht im Haus war, hielt sie sich bei den Aeriten oder Kasiren auf. Sie war ein flinkes, beliebtes Kind, ein Püppchen, das jedermann liebte, während ihre dürre, häßliche Schwester immer nur das fünfte Rad am Wagen war und sich fragte, ob es auch jemanden gab, der etwas für sie empfand. Aber es sah nie so aus.
Tabor schlief wieder ein. Sie versuchte, langsam von ihm wegzurücken, aber sobald sie sich bewegte, bewegte sich auch sein Arm und hielt sie fest. Schließlich drehte sie sich so, daß ihr Rücken seinen Bauch berührte. Er murmelte etwas vor sich hin und wurde wieder still.
Man hatte ihr einmal versprochen, sie nach Kroeber zu schicken. Es war ihr immer als ein normaler Teil des Universums erschienen, daß sie größer wurde, die Sonne aufging, das Getreide reifte und man sie an ihrem achtzehnten Geburtstag durch den Greifer und den Tau-Raum zur Universität schicken würde. Man hatte das Versprechen nicht gehalten. Die Familie hatte kein Geld dafür.
Außerdem hatte man keine Zeit. Wenn die Flüchtlinge nicht gekommen wären, hätte sie selbstverständlich gehen können, denn aus Kindern wurden Frauen und Männer, die wiederum Männer und Frauen brauchten, und auf Aerie hatte es außer den Kasiren nur eine Familie gegeben. Aber jetzt war Aerie bevölkert – nicht einmal einen Kilometer entfernt gab es ein ganzes Dorf voller Menschen. Es gab also keinen Grund, von hier wegzugehen. Außerdem gab es viel zu tun.
Die Erinnerung an das erträumte Abenteuer machte sie immer noch wütend. Sie hatte einen ganz und gar un-Quillahaften Tobsuchtsanfall bekommen und sich tagelang in ihrem Zimmer eingeschlossen. Als die Aeriten und Kasiren mit dem Einfahren der Ernte beschäftigt gewesen waren, hatte sie ein paar Sachen zusammengepackt, eine Karte von To’an Cault eingesteckt und war nach Süden marschiert. Niemand schien ihr gefolgt zu sein. Sie hatte den breiten Inselrücken überquert, sich der Stille des von Vögeln bevölkerten Graslandes hingegeben und sich nach und nach wieder beruhigt. Mit ihrem Zorn schwand auch das Selbstmitleid. Sie war schweigsam durch eine große Leere gegangen, ohne auf die Zeit zu achten und hatte schließlich die friedlich daliegenden südlichen Berge von Cault Tereth erreicht.
Tabor hatte sie an einem Gebirgspaß erwartet. Er hatte sie mitgenommen in sein Tal, sein Heim und sein Bett. Er wußte auch, daß man sie während ihres ganzen Weges keine Sekunde aus den Augen gelassen hatte. Die Kasiren hatten nicht nur den Kennerins, sondern auch ihm Berichte geliefert. Die Selbstsicherheit, die
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