Die Flüchtlinge
lehnte sich gegen das warme Holz und schloß die Augen. Unter ihren Lidern färbte sich die Welt rot. „Ich weiß nicht … Vielleicht sollten wir bald wieder auf die Wanderschaft gehen …“
Palen wechselte neben ihr die Stellung. Schweigend verzehrten sie ihre Mahlzeit.
Da er an der Nachmittagsversammlung teilnehmen wollte, schloß Simit an diesem Tag früh die Schule, und bald darauf wimmelte es auf den Straßen der Ortschaft von Kindern. In einer Ecke des Marktplatzes hatte sich eine aus menschlichen und kasirischen Kindern gemischte Gruppe versammelt und spielte ein langes, kompliziertes Spiel. Inmitten des Getümmels rannte Meya umher und brüllte Befehle, denn nun war sie ein Commander in den Diensten des Galaktischen Imperiums. Sie führte ihre Soldaten in Kampfpositionen, unterwanderte den Feind mit einem Heer von Spionen, tüftelte Kampagnen gegen die Konföderation der Freien Welten aus, provozierte schnelle und blutige Schlachten zwischen den leeren Gemüse- und Fischbuden und stritt sich mit ihren Stabsoffizieren herum. Sie war gerade damit beschäftigt, eine Attacke gegen die gegnerische Festung zu fliegen, als sie am anderen Ende des Marktplatzes ihre Schwester sah, die sich auf dem Weg zum Gemeinschaftshaus befand. Auf der Stelle griff Meya sich an die Brust und ließ sich in äußerst dramatischer Form zu Boden fallen. „Mich hat’s erwischt!“ schrie sie auf. „Aber ihr müßt um jeden Preis weiterkämpfen, Jungs! Denkt daran: Das Recht ist auf unserer Seite!“ Sie ließ den Kopf sinken und streckte alle viere von sich. „Es hat überhaupt keiner auf dich geschossen! Das ist unfair!“
„Ein Commander darf erst in der allerletzten Schlacht sterben!“ „Du kannst doch nicht einfach die Regeln ändern!“
„Tut mir leid“, sagte Meya, stand auf und klopfte sich den Straßenstaub von der Hose. „Aber ich bin nun mal tot. Bis später.“ Eilig ließ sie die Marktstraße hinter sich und lief die Straße hinauf.
Quilla stand auf der Treppe des Gemeinschaftshauses und unterhielt sich mit Ved Hirem, Havens neuem, einzigem und selbsternanntem Richter. Stirnrunzelnd drückte sich Meya in einen Torweg. Ved roch komisch und redete immer in ausnehmend langen Sätzen. Jason sagte, daß sein Geruch von einer Salbe herrührte, mit der er seine Gelenke einrieb. Und er redete so komisch, weil er Anwalt war und Anwälte nun einmal so redeten. Er war mit Jason befreundet. Meya konnte sich über den Geschmack ihres Vaters nur wundern. Sie ging dem gestelzt redenden alten Mann meistens aus dem Weg.
„Aber wir müssen die Gesetze kodifizieren“, sagte Ved gerade. „Die Hauptstütze einer jeden Zivilisation liegt in der Struktur ihrer gesetzmäßigen und moralischen Überschaubarkeit der Gesellschaft, und ohne eine solche Struktur ist es unmöglich, möglicherweise sogar gefährlich, weiter zu expandieren, weil dies schließlich und unausweichlich in ein zunehmend chaotischer werdendes Stadium führen muß, soweit es die Bürger und den Staat betrifft. Verstehst du, was ich damit ausdrücken will?“
„Was Sie meinen“, erwiderte Quilla, „ist, daß Sie kein Richter sein können, wenn es keine Gesetze und Anwälte gibt, mit denen Sie sich über deren Auslegung streiten können. Wir haben das doch alles schon durchgekaut, Ved. In Haven leben dreihundertsechzig Menschen. Jeder kennt jeden, die Erwachsenen nehmen ausnahmslos an den Versammlungen teil, und größere Meinungsverschiedenheiten hat es noch nie gegeben. Wir brauchen noch keine Gesetzbücher; sie würden die Dinge nur komplizierter machen. Was du nicht willst, das man dir tu\ das füg’ auch keinem anderen zu, wie Hoku es auszudrücken pflegt.“
Ved verzog das Gesicht. „Niemand soll einen anderen verletzen oder betrügen oder von einem anderen verletzt oder betrogen werden.“
„Genau. Und wer dagegen verstößt, muß sich vor der Gemeinde verantworten. Mehr brauchen wir nicht.“
Ved zupfte an den Aufschlägen seiner Jacke. „Ich werde mit deinen Eltern darüber sprechen“, sagte er und ging in das Gemeinschaftshaus. Quilla schien nicht sonderlich gut aufgelegt zu sein. Meya verließ ihr Versteck und kletterte die Treppenstufen hinauf.
„Was machst du denn hier?“ fragte Quilla. Die Falten auf ihrer Stirn glätteten sich.
„Ich will mir die Versammlung ansehen.“ Meya griff nach der Hand ihrer Schwester.
„Es wird dich nur langweilen.“
„Bestimmt nicht! Ich verspreche, daß ich mich nicht langweilen werde. Ich
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