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Die Fluesse von London - Roman

Die Fluesse von London - Roman

Titel: Die Fluesse von London - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ben Aaronovitch
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lag und ich nicht, hatte sie etwas bemerkt, das mir entgangen war, hatte ein bisschen tiefer gebohrt oder ein bisschen intensiver über einen Fall nachgedacht. Wenn ich ihr Leben retten wollte, musste ich dasselbe tun.
    In Goodge Street stiegen noch mehr Leute ein. Eswurde noch wärmer, aber wenigstens trocknete ich jetzt schneller. Ein Typ in hellbrauner Hose und einem blauen Blazer stellte sich rechts von mir in den Raum vor der Verbindungstür   – so nahe, dass ich den blechernen Rhythmus aus seinen iPod-Ohrstöpseln hören konnte. Ich fühlte mich wieder beruhigend anonym.
    Nichts in der Fachliteratur über Wiedergänger hatte mir eine klare Vorstellung vermittelt, wie oder warum ein gewöhnlicher Geist die Fähigkeit erwerben konnte, anderen Geistern die magische Kraft auszusaugen. Meine Arbeitshypothese über Geister lautete, dass sie Abbilder von Persönlichkeiten waren, die sich irgendwie in die Magie eingeprägt hatten, die sich an und auf physischen Objekten sammelte   – die
Vestigia
. Ich vermutete, dass Geister allmählich verblassten, ungefähr so, wie die Aufzeichnungen auf Magnettonbändern im Laufe der Zeit immer schwächer werden. Aus diesem Grund mussten sich die Geister von Zeit zu Zeit wieder neue magische Kraft verschaffen   – indem sie sie anderen Geistern aussaugten.
    In der Warren Street musste ein Betrunkener eingestiegen sein; ich konnte ihn nicht sehen, nur hören. Nach einer kurzen Atempause kam er richtig in Fahrt und begann zu grölen. In Euston stieg eine junge Frau in rosafarbenem Halterneck-Top ein, und ich ließ mich momentan von ihrem Dekolleté ablenken, das die Grenzen des physikalisch Erklärbaren sprengte. Sie lehnte sich mir gegenüber an die Glastrennwand. Ich schaute weg, bevor sie meinen Blick spüren konnte, und verlagerte meine Aufmerksamkeit auf die erstbeste Reklame. Aus dem Augenwinkel sah ich, dass der Bursche im blauen Blazer das Gleiche tat.
    Dann kam ein weißer Junge mit Dreadlocks in meine kleine Nische des Waggons geschlurft und brachte eine Wolke von Patschuliöl, Tabak und Marihuana mit. Die Frau im Halterneck-Top zögerte kurz, dann schob sie sich ein wenig näher an mich heran   – offenbar war ich das kleinere Übel.
    »Vor die Hunde, vor die Hunde«, grölte der Betrunkene weiter vorn im Waggon. »Das Land geht vor die Hunde!« Und unser fröhlicher kleiner U-Bahn -Zug setzte sich ruckelnd in Bewegung.
    Wiedergänger mussten ziemlich selten sein, sonst wären ja irgendwann keine Geister mehr übrig, die sie aussaugen konnten   – und diese Überlegung brachte mich wieder zu der Frage zurück, wie ein Wiedergänger eigentlich entstand. Ein bestimmter psychischer Zustand im Augenblick des Todes vielleicht? Henry Pyke war einen sinnlosen und ungerechten Tod gestorben, selbst nach den laxen Moralvorstellungen des 18.   Jahrhunderts, er hasste Charles Macklin abgrundtief, außerdem war er maßlos enttäuscht über den traurigen Verlauf seiner Schauspielerkarriere   – aber reichte das aus, ihn so weit zu treiben, dass er den armen Bernard Coopertown zwang, seine eigene Frau totzuschlagen?
    »War mal ein gottverdammes P-paradies!«, grölte der Besoffene. Camden Town, wo wir jetzt waren, konnte er damit wohl nicht meinen, denn trotz seines berühmten Marktes hatte Camden nie den Ehrgeiz entwickelt, mehr als nur ein ehrbarer, aber doch recht schäbiger Wohnbezirk zu sein.
    An der U-Bahn -Station Camden Town teilt sich die Northern Line; hier stiegen jede Menge Leute aus undnoch mehr Leute stiegen zu. Wir drängten uns alle noch ein bisschen mehr zusammen, und ich durfte nun den Kopf der Frau im Halterneck-Top von oben betrachten   – sie hatte blonde Haarwurzeln und Schuppen. Der Mann im blauen Blazer wurde von rechts herangeschubst, und beide zusammen pressten mich gegen die Tür. Wir rückten uns in der neuen Position zurecht und bemühten uns, den jeweiligen Nachbarn nicht unsere Achselhöhlen ins Gesicht zu schieben. Nur weil es unbequem zugeht, heißt das noch lange nicht, dass man auf ein halbwegs anständiges Benehmen verzichten oder etwa Blickkontakt mit einem der Umstehenden aufnehmen muss.
    Der Säufer hieß alle Neueinsteigenden mit herzlichen Worten willkommen. »Je mehr, desto lustiger!«, grölte er. »Die ganze beschissene Menschheit   – kommt alle rein, warum denn nicht?«
    Der Gestank, der von dem weißen Knaben mit den Dreadlocks ausging, wurde stärker, eine Mischung aus Urin und Exkrementen, und ich fragte mich, wann er

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