Die Fluesse von London - Roman
wohl zum letzten Mal seine imitierte Kampfanzughose gewechselt hatte.
Weniger als eine Minute hinter Camden Town kam der Zug ruckartig zum Stillstand. Ein unterdrücktes Stöhnen entfuhr den Passagieren, vor allem, als dann auch noch das Licht schwächer wurde. Irgendwo am anderen Ende des Waggons kicherte jemand.
Hinter Henry Pyke musste noch etwas anderes stehen, dachte ich, etwas viel, viel Schlimmeres als nur ein verbitterter, gescheiterter Schauspieler.
»Natürlich ist da noch was!«, grölte der Säufer durch den Waggon. »Und zwar ich!«
Ich reckte den Hals, um den Säufer sehen zu können, aber mein Blickfeld wurde von dem weißen Jungen mit den Dreadlocks eingeengt, in dessen Miene der Ausdruck stummer Befriedigung lag. Der Gestank wurde noch stärker und mir wurde klar, dass sich der Junge eben in die Hose geschissen hatte. Er fing meinen Blick auf und strahlte mich voller Erleichterung an.
»Wer bist du?«, schrie ich und versuchte, mich aus meiner Ecke zu schieben, aber die Frau im Halterneck-Top drängte sich rückwärts gegen mich und presste mich an die Rückwand. Das Licht wurde noch schwächer, und dieses Mal war das Aufstöhnen der Passagiere alles andere als unterdrückt.
»Ich bin der Dämon des Saufens!«, brüllte der Säufer. »Ich bin der Gin in jeder Gosse und die Kneipe in jeder Straße. Ich bin ein Jünger von Captain Swing, Watt Tyler und Oswald Mosley. Ich bin die grinsende Fratze im Fenster der Droschke, ich bin der Grund dafür, dass sich Dickens nach der Natur und dem Landleben sehnte, und ich bin das, wovor deine Meister Angst haben.«
Ich schob die Frau im Halterneck-Top weg, aber meine Arme fühlten sich schwer an, nutzlos, als befände ich mich mitten in einem Albtraum. Sie rieb ihren Körper an mir. Im Waggon wurde es immer heißer, und ich begann zu schwitzen. Eine Hand griff mir plötzlich an den Hintern und drückte heftig zu – der Mann im blauen Blazer. Ich war so geschockt, dass ich praktisch erstarrte. Ich schaute ihn an, aber er schaute nur geradeaus, den typisch gelangweilten, entrückten Ausdruck eines erfahrenen U-Bahn -Pendlers im Gesicht. Sein iPod dudelte noch lauter und noch irritierender als zuvor.
Der Gestank nach Scheiße verursachte mir einen Würgereiz; ich schob die Frau im Halterneck-Top so weit von mir, dass ich zum anderen Waggonende blicken konnte. Und endlich sah ich den grölenden Säufer – er hatte das Gesicht von Mr. Punch.
Der Mann im Blazer ließ meinen Arsch los und versuchte, die Hand hinten in meine Jeans zu schieben; die Frau im Halterneck rieb die Hüfte gegen meine Genitalien.
»Ist das«, brüllte Mr. Punch, »denn ein Leben für einen jungen Mann?«
Der weiße Junge mit den Dreadlocks lehnte sich zu mir herüber und stach mir mit voller Absicht den Zeigefinger ins Gesicht. »Pieks«, sagte er und grinste. Und dann tat er es noch einmal.
Es gibt einen Punkt, an dem ein Mensch ausrastet, an dem er nur noch wild um sich schlägt. Manche Leute stehen ihr ganzes Leben lang an diesem Abgrund, und die meisten von ihnen werden deshalb irgendwann eingebuchtet. Manche, darunter viele Frauen, werden im Laufe der Jahre immer weiter zermürbt, bis eines schlimmen Tages der Punkt erreicht ist und das Ehebett abgefackelt wird, und dann können die Anwälte nur noch auf »extreme Provokation« plädieren.
An diesem Punkt war ich nun und spürte heiligen, gerechten Zorn und wie wunderbar es wäre, alle rationalen Überlegungen zum Teufel zu schicken und schlicht und einfach durchzuknallen. Weil man sich irgendwann einfach nur wünscht, dass das gottverdammte Universum endlich mal genauer hinschaut und einen wahrnimmt – ist das denn verdammt noch mal zu viel verlangt?
Und dann wurde mir klar, dass es genau darum ging.
Mr. Punch – der Geist des Aufruhrs und der Rebellion – sagt und tut genau das, was auf seiner Produktbeschreibung steht: Das hier war er, der Kerl hinter Henry Pyke, und jetzt murkste er auch noch in meinem Hirn herum.
»Ich verstehe«, rief ich. »Henry Pyke, Coopertown, der Fahrradkurier, jede Menge Frustration, aber das geht doch jedem so in dieser Stadt, oder, Mr. Punch? Und welcher Anteil hat dich tatsächlich reingelassen? Ich wette, du hast eine beschissene Erfolgsquote – kapier’s endlich und hau ab! Ich jedenfalls geh heim ins Bett.«
Im selben Augenblick merkte ich, dass sich der Zug wieder in Bewegung gesetzt hatte, die Zugbeleuchtung war wieder normal und der Mann im blauen
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