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Die Fluesse von London - Roman

Die Fluesse von London - Roman

Titel: Die Fluesse von London - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ben Aaronovitch
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Blazer hatte die Hand nicht mehr in meiner Hose und der Besoffene war endlich still. Alle Passagiere im Waggon bemühten sich sehr, mich nicht anzuschauen.
    Am nächsten Halt, Kentish Town, machte ich, dass ich wegkam. Glücklicherweise hatte ich hier sowieso aussteigen wollen.
     
    Von September 1944 bis März 1945 hatte der Nazispitzbube Wernher von Braun seine V 2-Raketen auf die Sterne gerichtet und, wie es so schön in einem Song heißt, stattdessen zufällig London erwischt. Als mein Dad noch ein Kind war, war die Stadt mit Bombenkratern übersät und es gab viele Lücken in den ordentlichen Reihenhäusern; dort waren Bomben eingeschlagen und hatten die Häuser zerstört. Im Verlauf der Nachkriegsjahre hatte man diese Plätze geräumt und in Form von grauenhaften architektonischenFehlern neu bebaut. Mein Dad behauptete immer, der Architekturfehler, in dem unsere Wohnung lag und in dem ich aufgewachsen bin, sei auf einem V 2-Einschlag errichtet worden, aber ich glaube, es war nur eine ganz gewöhnliche, konventionelle Bombe, die die Deutschen da abgeworfen hatten.
    Wie auch immer, es war jedenfalls eine zweihundert Meter lange Lücke in der viktorianischen Reihenhauskette an der Leighton Road entstanden. Die Stadtplaner der Nachkriegszeit wollten diese Gelegenheit, neue stadtplanerische Fehler von eindrucksvoller Größe zu begehen, keinesfalls ungenutzt vorübergehen lassen. Deshalb wurden hier in den Fünfzigerjahren die Wohnblocks von Peckwater Estate errichtet, sechs Stockwerke hoch, rechteckig und   – ultimativer ästhetischer Effekt   – aus schmutzig grauem Ziegelstein, der auch noch schlecht verwitterte. Als dann das Luftreinhaltegesetz dem berüchtigten Londoner Smog ein Ende bereitete, machte man sich daran, die Gebäude mit Sandstrahlern zu reinigen, und danach sah Peckwater Estate noch schlimmer aus als zuvor.
    Die Wohneinheiten waren recht solide gebaut, deshalb war ich als Kind keiner Dauerberieselung durch die Doku-Seifenopern, die sich in den Nachbarwohnungen abspielten, ausgesetzt. Doch waren die Wohnungen von der Stadt in der irrigen Annahme gebaut worden, dass sich die Londoner Arbeiterklasse ausschließlich aus Hobbits zusammensetzte. Meine Eltern hatten eine Wohnung im dritten Stock, die Wohnungstür ging auf eine umlaufende Galerie mit Außentreppe hinaus. Als ich in den frühen Neunzigern noch hier lebte, waren die Außenwände mitGraffiti verschmiert und auf der Treppe lag Hundescheiße. Heutzutage sind die Graffiti größtenteils verschwunden, und die Hundescheiße wird regelmäßig mit dem Wasserschlauch in die Kanalisation gespült, was nach den Standards von Peckwater Estate einer Luxusrenovierung gleichkommt.
    Ich hatte immer noch einen eigenen Schlüssel, was ganz gut war, da meine Eltern offenbar ausgegangen waren.
    Das war an sich schon ungewöhnlich genug, so dass ich kurz stutzte. Mein Dad ist jetzt Anfang siebzig und geht nicht mehr oft aus dem Haus, also dachte ich, wenn meine Mum es geschafft hatte, ihn aus dem Haus zu bugsieren, dann musste es wohl eine größere Sache sein, mindestens eine Hochzeit oder eine Taufe. Aber das würde ich erfahren, wenn sie nach Hause kamen. Ich machte mir eine Tasse Tee mit Büchsenmilch und Zucker und aß ein paar Supermarkt-Kekse. So gestärkt ging ich in mein ehemaliges Zimmer, um festzustellen, ob darin genug Platz zum Schlafen war.
    Als ich damals auszog, hatte meine Mutter sofort   – und mit »sofort« meine ich zehn Minuten, nachdem sich die Haustür hinter mir geschlossen hatte   – angefangen, mein Zimmer als Lagerraum zu verwenden. Deshalb war es jetzt vollgestopft mit Umzugskartons, alle bis zum Bersten gefüllt und mit Packklebeband versiegelt. Ich musste erst ein paar dieser Kartons vom Bett wuchten, um mich hinlegen zu können. Sie waren sehr schwer und rochen nach Staub. In diesen Kartons sammelte meine Mutter Kleider, Schuhe, Küchenutensilien und nichtverderbliche Kosmetikprodukte und schickte sie ungefähr alle zwei Jahre an ihre Angehörigen in Freetown. Obwohlein großer Teil ihrer nächsten Verwandtschaft längst nach Großbritannien, in die USA oder, interessanterweise, nach Dänemark ausgewandert war, hatte sich die Zahl der Pakete mitnichten verringert. Afrikanische Familien sind bekanntermaßen weit verzweigt, und ich glaube, meine Mutter war mit halb Sierra Leone verwandt. Von frühester Kindheit an hatte ich gelernt, dass alles, was ich besaß, aber nicht mit Zähnen und Klauen verteidigte, potentieller

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