Die Fluesse von London - Roman
Windschutzscheibe, um schneller durch Pall Mall zu kommen, dann am Buckingham-Palast vorbei und nach Victoria. Ich konnte mir nur zwei Orte denken, zu denen wir unterwegs sein konnten: die Polizeistation in Belgravia, wo die Mordkommission ihr Einsatzzentrum eingerichtet hatte, oder das Pathologische Institut von Westminster, wo Skirmishs Leiche aufbewahrt wurde. Ich hoffte, dass es das Einsatzzentrum sein würde, aber natürlich war es das Leichenschauhaus.
»Aber Sie kennen sich mit naturwissenschaftlichen Methoden aus?«, fragte Nightingale nach einer Weile.
»Jawohl, Sir«, antwortete ich und beschloss, gelegentlich mein Wissen über Bacon, Descartes und Newton aufzufrischen. Beobachtung, Hypothese, Experiment und … den Rest würde ich nachlesen, wenn ich wieder vor meinem Laptop saß.
»Gut«, sagte Nightingale, »denn ich brauche jemanden mit einer gewissen Objektivität.«
Ganz klar das Leichenschauhaus, dachte ich.
Die offizielle Bezeichnung lautet Iain West Forensic Suite. Es ist einer der gelungeneren Versuche des Innenministeriums, seine Pathologie-Institute so cool wirken zu lassen wie die in den amerikanischen T V-Serien . Damit schmutzige Polizisten die Leichen nicht mit den geringsten Verunreinigungen besudeln konnten, hatte man einen besonderen Beobachterraum eingerichtet, in den Live-Autopsien über Videokameras übertragen werden konnten. Dadurch wurde selbst die grausigste Obduktion auf nichts weiter als ein paar schauerliche Bilder reduziert, so ähnlich wie in einer T V-Doku . Ich war sehr dafür, die Sache vom Beobachtungsraum aus zu verfolgen, aber Nightingale erklärte, wir müssten so nahe wie möglich an die Leiche heran.
»Warum?«, wollte ich wissen.
»Weil es außer Sehen und Hören auch noch andere Sinne gibt.«
»Reden wir hier von außersinnlicher Wahrnehmung?«
»Gehen Sie einfach unvoreingenommen an die Sache heran«, sagte Nightingale.
Wir mussten saubere Schutzanzüge und Gesichtsmasken überziehen, bevor man uns erlaubte, uns dem Autopsietisch zu nähern. Wir waren keine Angehörigen, daher hatte sich niemand die Mühe gemacht, den Spalt zwischen den Schultern und dem Kopf abzudecken. Ich beglückwünschte mich, dass ich vorhin kein Bentō gegessen hatte.
Vermutlich war William Skirmish im Leben ein recht unauffälliger Mann gewesen. Mittleres Alter, Größe knapp über dem Durchschnitt, körperlicher Zustand leicht schwabbelig, aber nicht dick. Es fiel mir überraschend leicht, den abgetrennten Kopf mit dem ungleichmäßiggezackten Rand an der Stelle zu betrachten, wo er eigentlich auf dem Hals hätte sitzen sollen. Die meisten Leute denken, ein junger Polizist bekommt als ersten Toten immer ein Mordopfer zu sehen, aber die Wahrheit ist weniger spannend: Gewöhnlich handelt es sich um das Opfer eines Autounfalls. Meinen ersten Toten hatte ich am zweiten Tag meiner Ausbildung zu Gesicht bekommen – ein Fahrradkurier, dem ein Kleintransporter den Kopf abgetrennt hatte. Zwar gewöhnt man sich nicht unbedingt an den Anblick, aber zumindest lernt man dabei, dass es noch viel schlimmer sein könnte. Es war nicht gerade angenehm, Mister Kopflos genauer zu betrachten, aber ich gebe zu, dass es weniger schrecklich war, als ich mir vorgestellt hatte.
Nightingale trat nahe an den Autopsietisch und steckte praktisch die Nase in den Spalt zwischen Kopf und Körper. Nach kurzer Zeit trat er zurück, schüttelte den Kopf und wandte sich zu mir um. »Helfen Sie mir mal, ihn umzudrehen.«
Ich verspürte kein großes Verlangen, die Leiche anzufassen, nicht mal mit den Schutzhandschuhen, aber natürlich durfte ich jetzt nicht die Nerven verlieren. Der Körper war schwerer, als ich erwartet hatte, kalt und starr kippte er auf den Bauch. Ich trat schnell ein paar Schritte zurück, aber Nightingale winkte mich wieder näher.
»Ich möchte, dass Sie Ihr Gesicht so nahe wie möglich an seinen Nacken bringen, die Augen schließen und mir sagen, was Sie spüren«, befahl er.
Ich zögerte.
»Ich versichere Ihnen, dass Ihnen der Grund dafür gleich klar wird«, sagte er.
Gesichtsmaske und Augenschutz halfen ein bisschen, denn so war die Gefahr gering, dass ich den Toten versehentlich küsste. Ich folgte Nightingales Anweisung und schloss die Augen. Zuerst nahm ich nur den Geruch von Desinfektionsmittel, rostfreiem Stahl und frisch gewaschener Haut wahr, doch nach ein paar Augenblicken sickerte noch etwas anderes in meine Wahrnehmung, ein Kratzen und Hecheln, eine feuchte
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