Die Fluesse von London - Roman
Schnauze, ein wedelnder Schwanz.
»Nun?«, fragte Nightingale.
»Ein Hund«, sagte ich. »Ein kleiner kläffender Köter.«
Knurren, Bellen, Schreien, blitzlichtartiges Glitzern nasser Straßensteine, Stöcke, Lachen – ein irres, schrilles Gelächter.
Ich fuhr zurück und richtete mich auf.
»Gewalt? Gelächter?«, erkundigte sich Nightingale. Ich nickte stumm.
»Was war das?«, fragte ich schließlich verwirrt.
»Das Unheimliche«, antwortete Nightingale. »Sie können es mit einem optischen Effekt vergleichen. Wenn man in helles Licht schaut und dann die Augen schließt, bleibt ein sogenanntes Nachbild zurück. Was Sie soeben wahrgenommen haben, ist ein solches Nachbild, eine Art Spur, und deshalb spricht man von einem
Vestigium
, das lateinische Wort für Spur.«
»Und woher weiß ich, dass ich mir das alles nicht nur einbilde?«, wollte ich wissen.
»Das ist Erfahrungssache. Nach einer Weile lernen Sie, den Unterschied zu erkennen.«
Zu meiner Erleichterung wandte er sich von der Leiche ab, und wir verließen den Raum.
»Aber ich habe kaum etwas wahrgenommen«, sagte ich, während wir die Schutzkleidung ablegten. »Ist es immer so schwach?«
»Diese Leiche liegt seit zwei Tagen in der Kühlkammer«, sagte er. »Außerdem bleiben die
Vestigia
in einem toten Körper nicht sehr lange erhalten.«
»Dann muss also das, was es auslöste, sehr stark gewesen sein«, vermutete ich.
»Richtig. Wir dürfen deshalb annehmen, dass der Hund sehr wichtig ist, und müssen den Grund dafür herausfinden.«
»Vielleicht hatte Mr. Skirmish einen Hund?«
»Ja«, antwortete Nightingale, »und damit fangen wir an.«
Wir hatten uns umgezogen und waren auf dem Weg zum Ausgang, als uns das Schicksal einholte.
»Ich hab gerüchteweise gehört, dass in diesem Bau ein furchtbarer Gestank ausgebrochen ist – und verdammt noch mal, es stimmt!«, ertönte eine laute Stimme hinter uns.
Wir blieben stehen und drehten uns um.
Detective Chief Inspector Alexander Seawoll war ein hochgewachsener Mann, knapp zwei Meter groß, mit fassähnlicher Brust, Bierbauch und einer Stimme, die die Toten aus den Gräbern treiben konnte. Er stammte aus Yorkshire oder einer ähnlichen Gegend, und wie viele Nordengländer mit Problemen war er nach London gezogen, weil das eine billigere Alternative zu einer psycho-therapeutischen Behandlung war. Ich kannte ihn nur dem Ruf nach, und dieser Ruf besagte, dass man sich unter absolut gar keinen Umständen mit ihm anlegen durfte. Jetztstürmte er durch den Korridor auf uns zu wie ein Bulle mit einer Überdosis Steroiden im Blut, und ich musste mich zusammenreißen, um nicht hinter Nightingales Rücken in Deckung zu gehen.
»Das ist verdammt noch mal meine Ermittlung!«, donnerte Seawoll. »Ist mir scheißegal, mit wem Sie gerade rummachen, aber ich will nicht, dass dieser Akte- X-Scheiß meinen ordentlichen polizeilichen Ermittlungen in die Quere kommt!«
»Ich versichere Ihnen, Inspector«, sagte Nightingale ruhig, »dass ich nicht die Absicht habe, Ihnen in die Quere zu kommen.«
Seawoll drehte den Kopf halb in meine Richtung. »Und wer zum Teufel ist das?«
»Das ist Police Constable Peter Grant. Er arbeitet mit mir zusammen.«
Das verschlug Seawoll für einen Augenblick die Sprache. Er musterte mich eingehend, dann wandte er sich wieder an Nightingale. »Sie nehmen einen Lehrling auf?«
»Möglicherweise«, antwortete Nightingale.
»Das werden wir ja sehen«, knurrte Seawoll. »Schließlich gibt es eine Abmachung.«
»Die Umstände können sich ändern.«
»Nichts ändert sich verdammt noch mal so sehr«, bellte Seawoll, aber mir schien, dass er nicht mehr ganz so selbstsicher wirkte. Wieder starrte er auf mich herab. »Ich geb dir einen guten Rat, mein Junge«, sagte er leise. »Lauf von diesem Mann weg, solange du noch kannst.«
»Wäre das alles?«, erkundigte sich Nightingale gelassen.
»Mischen Sie sich einfach nicht in meine Ermittlungen ein«, sagte Seawoll.
»Ich tue, was nötig ist«, sagte Nightingale. »So lautet die Abmachung.«
»Die Umstände können sich verdammt noch mal ändern«, knurrte Seawoll. »Wenn mich die Herren jetzt bitte entschuldigen wollen – meine Darmspülung ist schon überfällig.«
Er stampfte durch den Korridor zurück, stieß krachend die Flügeltür auf und verschwand.
»Was ist das für eine Abmachung?«, fragte ich.
»Nicht wichtig. Kommen Sie – schauen wir mal, ob wir vielleicht diesen Hund finden können.«
Im
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