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Die Fluesse von London - Roman

Die Fluesse von London - Roman

Titel: Die Fluesse von London - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ben Aaronovitch
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spirituelle Reise plante, brauchte ich nichts weiter mitzunehmen, und ich hatte auch schon lange genug herumgetrödelt. Zögernd ging ich die Treppe hinunter. Molly wartete im Atrium auf mich. Sie hatte den Kopf gesenkt, ihr Haar verhüllte ihr Gesicht wie ein schwarzer Vorhang, die Hände hielt sie vor sich verschränkt.
    »Ich hab doch auch keine Lust dazu!«, sagte ich.
    Sie hob den Kopf und blickte mir zum ersten Mal direkt in die Augen.
    »Tu es«, sagte ich.
    Sie bewegte sich so schnell, dass ich es gar nicht wahrnahm, warf sich förmlich auf mich. Ein Arm glitt um meine Schultern und ihre Hand packte meinen Hinterkopf, der andere Arm legte sich um meine Taille. Ich spürte ihre Brüste gegen meinen Oberkörper drücken, mit denSchenkeln umklammerte sie mein Bein. Sie vergrub das Gesicht an meinem Hals, und ich spürte ihre Lippen an meiner Kehle. Von plötzlicher Angst gepackt versuchte ich sie von mir zu stoßen, aber sie hielt mich enger umklammert als bei einem Liebesakt. Ihre Zähne kratzten über meinen Hals und dann kam der Schmerz, wie von einem Schlag, als sie zubiss. Ich spürte, wie sie mein Blut saugte und schluckte, aber nun fühlte ich auch schon eine Verbindung zu den Fliesen unter meinen Füßen und zu den Ziegelsteinen in der Mauer   – dem gelblichen Londoner Lehm   – und dann fiel ich rückwärts ins Tageslicht und roch Terpentin.
    Es war nicht wie Virtual Reality oder wie man sich ein Hologramm vorstellt, sondern eher wie das Einatmen eines
Vestigium
, wie Schwimmen in einem Stein. Ich fand mich in den Erinnerungen des Atriums, des Folly, wieder.
    Ich hatte es getan   – jetzt war ich drin.
     
    Das Atrium sah fast unverändert aus, nur die Farben waren gedämpft, wie das Sepia alter Fotografien, und in meinen Ohren war ein Klingeln, wie man es empfindet, wenn man zur tiefsten Stelle des Schwimmbeckens taucht. Molly war verschwunden, aber ich glaubte Nightingale flüchtig zu sehen, oder vielleicht auch nur das Abbild Nightingales in der steinernen Erinnerung, wie er müde die Treppe hinaufstieg. Meine Hände hatten sich ineinander verkrampft; ich öffnete sie und sah nach, ob ich das Skelettabzeichen immer noch in der Hand hielt. Es war noch da, und als ich die Hand wieder darum schloss, spürte ich, dass mich das Abzeichen ganz leicht in südliche Richtung zog. Ich drehte mich um und gingzu dem Seiteneingang, der auf den Bedford Place hinausführte, aber als ich das Atrium durchquerte, wurde mir plötzlich eine riesige Dunkelheit unter mir bewusst. Es war, als seien die schwarzen und weißen Fliesen transparent geworden und durch sie hindurch blickte ich in einen entsetzlichen Abgrund   – dunkel, bodenlos und kalt. Ich wollte schneller gehen, aber es war, als müsse ich gegen einen gewaltigen Gegenwind ankämpfen. Ich lehnte mich nach vorn und stemmte mich mit aller Kraft dagegen, um voranzukommen. Erst als ich mich vorsichtig durch das labyrinthartige Dienstbotenquartier unter dem östlichen Treppenhaus bewegt hatte, kam mir ein Gedanke: Wenn dies das Geisterreich war, konnte ich vielleicht einfach durch die Wände gehen? Aber nachdem ich ein paarmal mit dem Kopf gegen die Wand gedonnert war, öffnete ich dann doch lieber die Seitentür wie ein Normalsterblicher.
    Und trat in die Dreißigerjahre hinaus. Es roch nach Pferden. Dass es die Dreißigerjahre waren, merkte ich an den Zweireiher-Anzügen und den Gangsterhüten. Autos waren nur als Schatten zu sehen, aber die Pferde waren solide und rochen nach Schweiß und Mist. Auf den Gehwegen spazierten Leute, die absolut normal wirkten, wenn man von ihrem leeren Blick absah. Ich wagte ein Experiment und stellte mich einem Mann direkt in den Weg, aber er ging einfach um mich herum, als sei ich ein zwar vertrautes, aber völlig unwichtiges Hindernis. Ein durchdringender Schmerz zuckte durch meinen Hals und erinnerte mich daran, dass ich hier nicht zu einer Besichtigungstour unterwegs war.
    Ich ließ mich von dem Abzeichen durch Bedford Placeziehen und weiter zum Bloomsbury Square. Der Himmel kam mir seltsam unbestimmt vor, mal blau, mal bewölkt, dann wieder schmutzig grau gesprenkelt vom Kohlenrauch. Unterwegs fiel mir auf, dass sich die Kleider der Passanten veränderten, die Geisterautos waren auf einmal verschwunden und selbst die Skyline der Stadt änderte sich. Mir wurde klar, dass ich immer weiter durch die historischen Zeiten zurückgezogen wurde. Wenn ich richtig vermutet hatte, würde mich Nicholas’ Abzeichen nicht nur zu

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