Die Fluesse von London - Roman
behalten.
Schließlich wischte ich mir mit dem kalten Plastikärmel über den Mund und lehnte mich an die Wand. Gegenüber hing ein Plakat des Noël Coward-Theatre, wo eine Farce mit dem Titel
Down with Kickers!
aufgeführt wurde.
Zwei Opfer, beide mit halb fehlenden Gesichtern: Das bedeutete, dass die »Besessenheit« zwei Personen zur gleichen Zeit überwältigt hatte. Immer noch war ein Zelt übrig. Viel schlimmer konnte es ja kaum werden, oder?
Wie dumm man doch sein kann.
Das dritte Opfer saß mit untergeschlagenen Beinen da, mehr wie ein Kind als wie ein Yogi, obwohl die Hände mit den Handflächen nach oben auf seinen Knien ruhten. Seine Kleider waren blutdurchtränkt; Schultern und Arme waren mit roten schnurähnlichen Fasern bedeckt. Der Kopf fehlte vollständig, und der Hals endete in einem Stumpf mit ungleichmäßigen Rändern. Zwischen den zerrissenen Muskelbändern leuchtete etwas Weißes – sein Rückgrat, wie ich vermutete.
Seawoll hatte in dem Zelt auf uns gewartet. Er grunzte, als Lesley uns hereinführte. »Jemand verarscht uns.«
»Es eskaliert«, sagte ich.
Nightingale warf mir einen scharfen Blick zu, sagte aber nichts.
»Aber was eskaliert?«, fragte Lesley. »Und warum könnt ihr es nicht aufhalten?«
»Weil wir, Constable«, sagte Nightingale kalt, »nicht wissen, was es ist.«
Es gab jede Menge Zeugen und Verdächtige und Leute, die der Polizei bei den Ermittlungen helfen sollten. Wir bildeten Zweierteams, um die Vernehmungen so schnell wie möglich durchführen zu können – ich mit Seawoll, Lesley mit Nightingale. So war immer jemand dabei, der ein
Vestigium
erkennen konnte, sobald es ihm ins Gesicht sprang. Sergeant Stephanopoulos kümmerte sich um die Aufnahme der physischen Beweise und die Aufzeichnungen der Überwachungskameras.
Es war ein Privileg, Seawoll bei der Arbeit zuschauen zu dürfen. Gegenüber den Verdächtigen wirkte er nicht halb so Furcht einflößend wie bei seinem Umgang mit untergebenen Polizisten. Seine Verhörtechnik war behutsam, niemals plump vertraulich, immer formell und er wurde nie laut. Ich führte Protokoll.
Der Ablauf der Ereignisse, wie wir ihn allmählich rekonstruierten, war auf bedrückende Weise vertraut, nur hatten sie nun eine viel größere Dimension als alles zuvor. An diesem milden Sonntagnachmittag im Frühling war der St. Martin’s Court mäßig belebt gewesen. Es handelt sich um eine nur für Fußgänger freigegebene Gasse mit Zugang zu drei verschiedenen Bühneneingängen und zur berühmten J. Sheekey’s Oyster Bar. Hierher kamen dieTheaterleute auf einen Kaffee und eine verstohlene Zigarette zwischen den Vorstellungen. In der Theaterwelt ist J. Sheekey so etwas wie ein Wahrzeichen. Kein Wunder, wenn man bis spät in die Nacht Essen serviert und nur einen Steinwurf entfernt ist von den berühmtesten Theatern des West End. Bei Sheekey arbeiten außerdem uniformierte Türsteher in Gehrock und Zylinder, und genau da nahmen an diesem Nachmittag die Probleme ihren Anfang.
Um Viertel vor drei Uhr, ungefähr zu der Zeit, zu der ich mich bei Oxley und Isis zum Tee niederließ, bogen sechs Mitglieder der International Society for Krishna Consciousness, kurz als ISKON bezeichnet, von der Charing Cross Road her in die Gasse ein. Es war für die Bhakta, die Gefolgsleute dieser Glaubensrichtung, ihre übliche Route vom Leicester Square zum Covent Garden. Sie wurden von Michael Smith angeführt, dessen Identität später durch Fingerabdrücke bestätigt wurde. Smith war ein resozialisierter Ex-Cracksüchtiger, -Alkoholiker und -Autodieb sowie möglicherweise -Vergewaltiger, doch seit er vor neun Monaten der Bewegung beigetreten war, hatte er sich nichts mehr zuschulden kommen lassen. ISKON ist sich der äußerst dünnen Trennlinie wohlbewusst, die zwischen der Erregung von Aufmerksamkeit und der Provokation von Feindseligkeiten seitens der Passanten verläuft. Die Sekte ist der Auffassung, dass durch Tanzen und Singen in der Öffentlichkeit potentiell zu Bekehrende angelockt werden können, aber Streit zu provozieren gehört nicht zu ihrer Taktik. Deshalb muss die »Verweildauer« an einem bestimmten Ort sehr sorgfältig eingeschätzt werden, um Probleme zu vermeiden.Michael Smith’ Einschätzung, wie weit die Krishna-Jünger gehen konnten, hatte sich bislang immer als recht zutreffend erwiesen, und das war der Grund, weshalb er an diesem Nachmittag die safranfarbene Schar anführte.
Und es war auch der Grund, warum alle
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