Die Fluesse von London - Roman
symbolisch.«
»Das macht es nur noch schlimmer. Sie würde es als Gesichtsverlust ansehen. Sie sieht sich als Herrin der größten Stadt der Welt und wird vor niemandem einen Kotau machen. Schon gar nicht vor einem Bauerntrampel, der in einem Wohnwagen lebt.«
»Wirklich schade, dass wir die beiden nicht miteinander verkuppeln können«, sagte Nightingale.
Darüber mussten wir laut lachen. Wir umfuhren Swindon; als wir uns auf der M4 befanden, fragte ich Nightingale, worüber er sich mit dem Alten Mann unterhalten habe.
»Mein Beitrag zur Konversation war begrenzt«, antwortete er. »Zum größten Teil ging es um technische Fragen, Grundwasserabsenkung, verzögerte Grundwasserzyklen, aggregierte Wassereinzugsgebietskoeffizienten. Offenbar hat das alles Einfluss auf die Wassermenge, die diesen Sommer den Fluss hinunterfließt.«
»Wenn Sie zweihundert Jahre zurückgehen und diesesGespräch führen würden, worüber hätte der Alte Mann dann gesprochen?«
»Welche Blumen gerade blühen. Wie der Winter war … Oder über den Vogelflug an einem Frühjahrsmorgen.«
»Wäre es derselbe Alte Mann gewesen?«
»Das weiß ich nicht«, gab Nightingale zu. »Aber 1914 war es derselbe Alte Mann, das kann ich mit Sicherheit sagen.«
»Woher wissen Sie das?«
Nightingale zögerte, dann sagte er: »Ich bin nicht ganz so jung, wie ich aussehe.«
Mein Handy klingelte. Zuerst wollte ich es ignorieren, doch die Melodie war
That’s Not My Name
, was bedeutete, dass Lesley anrief. Sie wollte wissen, wo zum Teufel ich steckte. Ich erklärte, dass wir gerade durch Reading fuhren.
»Wir haben schon wieder einen«, sagte sie.
»Wie schlimm?«
»Echt schlimm.«
Ich setzte das Blaulicht aufs Dach und Nightingale trat das Gaspedal durch. Mit 190 Sachen rasten wir nach London zurück, während die Sonne hinter uns unterging.
In der Charing Cross Road parkten bereits drei Feuerwehreinsatzwagen und der Verkehr staute sich bis zum Parliament Square und zur Euston Road zurück. Die Luft war erfüllt von Rauch und dem quäkenden Lärm von Funkgeräten. Lesley nahm uns an der Polizeiabsperrung in Empfang und reichte uns zwei Plastikanzüge. Während wir sie überzogen, sah ich, dass die halbe Fassade von J. Sheekey’s ausgebrannt war und dass in der Gasse dreiSpurensicherungszelte aufgebaut worden waren. Also mindestens drei Leichen.
»Wie viele liegen noch im Haus?«, fragte Nightingale.
»Keiner«, antwortete Lesley. »Sie sind alle rausgekommen – mit leichten Verletzungen.«
»Wenigstens dafür können wir dankbar sein«, sagte Nightingale. »Sind Sie sicher, dass das hier zu unserem Fall gehört?«
Lesley nickte und führte uns zum ersten Zelt. Drinnen kniete Dr. Walid neben der Leiche eines Mannes, der die unverkennbare Kleidung eines Hare-Krishna-Jüngers trug. Der Mann lag auf dem Rücken, die Beine gerade nebeneinander, doch die Arme ausgebreitet. Es sah aus, als hätte er an einem dieser vertrauensbildenden Seminare teilgenommen, bei denen man sich rückwärts fallen lässt – nur hatte ihn in diesem Fall niemand aufgefangen. Sein Gesicht war eine ähnlich blutige Ruine wie es die Gesichter von Coopertown und dem Fahrradkurier gewesen waren.
Damit war Nightingales Frage wohl beantwortet.
»Das ist noch nicht das Schlimmste«, sagte sie und winkte uns zum zweiten Zelt. Hier lagen zwei Leichen. Die erste war ein dunkelhäutiger Mann in schwarzem Gehrock. Sein blutverschmiertes Haar stand büschelweise vom Kopf ab. Er hatte einen so schweren Schlag auf den Kopf erhalten, dass der Schädel aufgeborsten und ein Teil seines Gehirns zu sehen war. Der andere Tote war ein weiterer Krishna-Jünger. Irgendein guter Samariter hatte offenbar versucht, ihn in die stabile Seitenlage zu bringen, aber bei einem Menschen mit praktisch gespaltenem Gesicht hatte die Maßnahme keinen größeren Nutzen bewirkt.
Mir wurde plötzlich bewusst, dass es in meinen Ohren pochte und dass mein Atem kurz und stoßweise ging. Blut, vermutlich von dem Schlag, den der andere Mann erhalten hatte, war über die Kleider des Krishna-Jüngers gespritzt und hatte auf dem orangefarbenen Stoff ein blutiges Batikmuster hinterlassen. Die Luft im Zelt war stickig, und ich begann in meinem Plastikanzug zu schwitzen. Nightingale stellte eine Frage, aber ich hörte Lesleys Antwort nicht. Ich trat aus dem Zelt, würgte, schluckte und stolperte zur Absperrung zurück. Zu meinem Erstaunen gelang es mir, den Battenbergkuchen im Magen zu
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