Die folgende Geschichte
zu geben, drehe ich allen Augen, auch den grünen, den Rücken zu und schreibe an die Tafel, als stünde es nicht schon in dem Buch, das vor ihnen liegt:
HIC • SITUS • EST • PHAËTHON • CURRUS
AURIGA • PATERNI
QUEM • SI • NON • TENUIT • MAGNIS
TAMEN • EXCIDIT • AUSIS
Hier liegt Phaëthon: Er fuhr in Phoibos’ Wagen, er scheiterte, aber hatte es zumindest gewagt. Metrisch stimmte es hinten und vorne nicht. Und daß es Wassernymphen waren, die mich (ihn!) bestatteten, hatte ich weggelassen, warum, mag der Himmel wissen.
Als es klingelte, war die Klasse sofort verschwunden, schneller als sonst. Maria Zeinstra trat zu mir ans Pult und fragte: »Regst du dich immer so auf?«
»Sorry«, sagte ich.
»Nein, ich fand das gerade so toll. Und es ist eine phantastische Geschichte, ich kannte sie noch nicht. Geht sie noch weiter?«
Und ich erzählte ihr von Phaëthons Schwestern, den Heliaden, die sich aus Trauer über den Tod ihres Bruders in Bäume verwandelten. »Genauso wie deine Ratte in Larven und dann in Käfer.«
»Mit einem Umweg. Aber es ist nicht dasselbe.«
Ich wollte ihr erzählen, wie prachtvoll Ovid diese Verwandlung in Bäume beschreibt, wie ihre Mutter, während dieser Prozeß noch im Gange ist, die Mädchen küssen will und Rinde und Zweige abreißt, und wie dann blutige Tropfen aus den Zweigen hervorquellen. Frauen, Bäume, Blut, Bernstein. Doch es war so schon kompliziert genug.
»Diese ganzen Verwandlungen bei mir sind Metaphern für die Verwandlungen bei dir.«
»Bei mir?«
»Na ja, in der Natur. Nur ohne Götter. Niemand tut es für uns, wir tun es selbst.«
»Was?«
»Uns verwandeln.«
»Wenn wir tot sind, ja, aber dafür brauchen wir dann Totengräber.«
»Ziemliche Arbeit, uns zusammenzurollen. Das gäbe eine ganz schön große Aaskugel. Rosa.« Ich sah es vor mir. Händchen nach innen gedreht, Denkerstirn im Bauch.
Sie lachte. »Dafür haben wir anderes Hilfspersonal. Maden, Würmer. Auch sehr fein.« Sie blieb stehen. Plötzlich sah sie wie vierzehn aus.
»Glaubst du, daß wir weiterexistieren?«
»Nein«, antwortete ich ihr wahrheitsgetreu. Ich bin mir noch nicht einmal ganz sicher, daß wir überhaupt existieren, wollte ich sagen, und dann sagte ich es doch.
»Ach so, der Schwachsinn.« Das klang sehr nordholländisch. Aber plötzlich packte sie mich an den Jackenaufschlägen.
»Gehst du mit, was trinken?« Und ohne Übergang, den Finger auf meine Brust gedrückt: »Und das? Existiert das etwa nicht?«
»Das ist mein Leib«, sagte ich. Es klang pedantisch.
»Ja, das hat Jesus Christus auch gesagt. Du gibst also wenigstens zu, daß der Leib existiert.«
»Aber ja.«
»Und wie nennst du das dann? Mich, ich, irgend so etwas?«
»Ist dein Ich denn dasselbe wie vor zehn Jahren? Oder in fünfzig Jahren?«
»Dann lebe ich hoffentlich nicht mehr. Aber sag doch mal genau – was glaubst du, sind wir?«
»Ein Bündel zusammengesetzter, sich ständig verändernder Gegebenheiten und Funktionen, das wir Ich nennen. Ich weiß auch nichts Besseres. Wir tun so, als sei es unveränderlich, aber es verändert sich ständig, bis es ausgelöscht wird. Aber wir sagen weiter Ich dazu. Eigentlich ist es eine Art Beruf des Körpers.«
»Hört, hört.«
»Nein, ich meine das ernst. Dieser mehr oder weniger zufällige Körper oder diese Ansammlung von Funktionen hat die Aufgabe, während seines Lebens Ich zu sein. Das kommt doch so etwas wie einem Beruf sehr nahe. Oder etwa nicht?«
»Meiner Meinung nach bist du ein bißchen meschugge«, sagte sie. »Aber du bist groß im Reden. Und jetzt will ich einen Schnaps.«
Gut, sie meinte, ich sei ein komisches Männeken, aber mein verkohlter Phaëthon hatte Eindruck auf sie gemacht, ich stand unübersehbar zur Verfügung, und sie hatte Rache zu nehmen. Was griechische Dramen groß macht, ist, daß derlei psychologischer Unsinn darin keine Rolle spielt. Auch das hatte ich ihr sagen wollen, aber Konversation besteht nun einmal größtenteils aus den Dingen, die man nicht sagt. Wir sind Nachkömmlinge, wir haben keine mythischen Leben, nur psychologische. Und wir wissen alles, wir sind stets unser eigener einstimmiger Chor.
»An der ganzen Geschichte am schlimmsten finde ich«, sagte sie, »daß es so ein Klischee ist.«
Ich war mir gar nicht so sicher, ob das stimmte. Das Schlimmste war natürlich Lisa d’Indias Rätselhaftigkeit. Alles andere, jung, schön, Schülerin, Lehrer, das war das Klischee. Das Rätselhafte steckte in
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