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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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was.«
    »Lokal?«
    »Na ja, wenn man ein Streichholz abbrennen läßt, wird es ganz krumm, das gibt natürlich eine enorme Spannung im Material.«
    »Ich habe in Nepal mal eine öffentliche Verbrennung erlebt, an einem Fluß.« Das war gelogen, ich hatte es nur gelesen, aber ich sah den brennenden Holzstoß.
    »Oh. Und was passierte da?«
    »Der Schädel explodierte. Ein wahnsinniges Geräusch. Als ob man eine riesengroße Kastanie geröstet hätte.«
    Sie mußte lachen, und dann erstarrte ihr Gesicht. Draußen auf dem Schulhof – ich weiß nicht, ob man den jetzt noch so nennt – liefen Arend Herfst und Lisa d’India in Sportkleidern. Das war legitim, er war der Trainer der Mannschaft. Herfst legte sich ins Zeug. Durch sein ewiges Grinsen hatte der Dichter Ähnlichkeit mit den Larven bekommen, die ich gerade gesehen hatte.
    »Ist sie in deiner Klasse?« fragte Maria Zeinstra.
    »Ja.«
    »Was hältst du von ihr?«
    »Sie ist die Freude meiner alten Tage.« Ich war in den Dreißigern und sagte das ohne jegliche Ironie. Keiner von uns beiden schaute auf ihn, wir sahen, wie die Frau neben ihm den Raum draußen verschob, wie sich durch ihr Fortbewegen der Mittelpunkt des Schulhofs immer wieder verlagerte.
    »Auch verliebt?« Es sollte spöttisch klingen.
    »Nein.« Es war die Wahrheit. Wie bereits erklärt.
    »Kann ich nächstes Mal in deine Stunde kommen?«
    »Ich fürchte, du wirst nichts daran finden.«
    »Das werd’ ich schon selbst sehen.«
    Ich sah sie an. Die grünen Augen halb hinter dem roten Haar verborgen, ein widerspenstiger Vorhang. Ein Sternenhimmel aus Sprossen.
    »Dann komm, wenn Ovid dran ist. Da verwandelt sich auch etwas. Keine Ratten in Aaskugeln, aber immerhin …«
    Was sollte ich an diesem Nachmittag lesen? Phaëthon, die halbe Erde, die im Feuer vergeht? Oder die Schrecken der Unterwelt? Ich versuchte mir vorzustellen, wie sie in meiner Klasse sitzen würde, aber es gelang mir nicht.
    »Also, bis dann«, sagte sie und ging. Als ich später ins Lehrerzimmer kam, sah ich, daß sie in ein unerfreuliches Gespräch mit ihrem Mann verwickelt war. Sein ewiges Grinsen hatte jetzt etwas Höhnisches an sich, und zum erstenmal sah ich, daß sie verletzlich war.
    »Bei tragischen Gesprächen mußt du deinen Trainingsanzug ausziehen«, wollte ich zu ihm sagen, aber ich sage nie, was ich denke.
    Das Leben ist ein Eimer Scheiße, der immer voller wird und den wir bis zum Ende mitschleppen müssen. Das soll der heilige Augustinus gesagt haben, ich habe den lateinischen Text leider nie nachgeprüft. Wenn er nicht apokryph ist, steht er natürlich in den Confessiones. Ich hätte sie schon längst vergessen haben müssen, es ist so lange her. Kummer hat etwas in den Linien deines Gesichts zu suchen, nicht in deiner Erinnerung. Außerdem ist das altmodisch, Kummer. Man hört fast nie mehr etwas davon. Und bürgerlich. Schon zwanzig Jahre keinen Kummer mehr gehabt. Es ist kühl hier oben, ich bin im Park hinter einem weißen Pfau hergegangen (warum gibt es nicht für alle weißen Tiere ein spezielles Wort, warum nur für Pferde?), als wäre das meine Lebensaufgabe, und jetzt sitze ich auf der Außenmauer des Kastells und blicke über die Stadt, den Fluß, die Fläche des Meeres dahinter. Oleander, Frangipani, große Ulmen. Neben mir sitzt ein Mädchen und schreibt. Das Wort Abschied umschwebt mich, und ich kann es nicht fassen. Diese ganze Stadt ist Abschied. Der Rand Europas, das letzte Ufer der ersten Welt, dort, wo der angefressene Kontinent langsam im Meer versinkt, zerfließt, in den großen Nebel hinein, dem der Ozean heute gleicht. Diese Stadt gehört nicht zum Heute, es ist hier früher, weil es später ist. Das banale Jetzt hat noch nicht begonnen, Lissabon zaudert. Das muß es sein, diese Stadt zögert den Abschied hinaus, hier nimmt Europa Abschied von sich selbst. Träge Lieder, sanfter Verfall, große Schönheit. Erinnerung, Aufschub der Metamorphose. Nichts dergleichen würde ich je in Dr. Strabo’s Reiseführer bringen. Ich schicke die Trottel in die Fado-Lokale, zu ihrer vorgekauten Portion saudade. Slauerhoff und Pessoa behalte ich für mich selbst, ich erwähne sie, ich schicke das Volk in die Mouraria oder ins Café A Brasileira, und ansonsten beiße ich mir lieber die Zunge ab. Von mir werden sie nichts davon zu hören bekommen, von den Seelenverwandlungen des alkoholsüchtigen Dichters, des fließenden, vielgestaltigen Ich, das in all seinem düsteren Glanz hier noch immer durch die Straßen

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