Die folgende Geschichte
Lissabon. Die Lichter der Stadt waren angegangen, mein Blick war ein Vogel geworden, der ziellos über die Straßen flog. Es war kühl geworden, da oben, die Stimmen der Kinder waren aus den Gärten verschwunden, ich sah die dunklen Schatten von Liebenden, Standbilder, die sich aneinanderklammerten, sich träge bewegende Doppelmenschen. Ignis mutat res 6 , murmelte ich, doch kein Feuer der Welt würde meine Materie noch verwandeln, ich war bereits verwandelt. Rings um mich wurde noch geschmolzen, gebrannt, da entstanden andere zweiköpfige Wesen, doch ich hatte meinen anderen, so rothaarigen Kopf schon vor so langer Zeit verloren, die weibliche Hälfte von mir war abgebrochen, ich war eine Art Schlacke geworden, ein Überbleibsel. Was ich hier tat, auf dieser von mir vielleicht gesuchten, vielleicht auch nicht gesuchten Fahrt, mußte eine Wallfahrt in jene Tage sein, und wenn das so war, dann mußte ich wie ein frommer Mensch des Mittelalters alle Stätten meines so kurzen Heiligenlebens aufsuchen, alle Stationen, an denen die Vergangenheit ein Gesicht hatte. Genau wie die Lichter unter mir würde ich in die Stadt ziehen bis zu dem Fluß, der breiten, geheimen Bahn Dunkelheit dort unten, über der sich bewegende Lichter ihre Spuren zogen, eine Schrift, leuchtende Buchstaben auf einer schwarzen Tafel. Immer wieder hatte sie diese kleinen Fährschiffe nehmen wollen, damals, in einer Orgie von Ankunft und Abschied. Mal sahen wir die Stadt entschwinden, mal die Hügel und Docks am anderen Ufer, so daß wir nur noch dem Wasser anzugehören schienen, zwei leichtsinnige Narren zwischen den Arbeitenden, Menschen, die nicht zur richtigen Welt gehörten, sondern zu den Messerstichen der Sonne im Wasser, dem Wind, der an ihren Kleidern zerrte. Es war ihre Idee gewesen, sie hatte mich eingeladen. Wir sollten nicht gemeinsam reisen, sie mußte zu einem Biologenkongreß in Coimbra, danach würde sie noch ein paar Tage in Lissabon sein, ich sollte dort zu ihr kommen.
»Und dein Mann?«
»Basketballturnier.«
Rache kannte ich aus Aischylos, Basketball nicht. Um ihrer Nähe willen mußte ich den Schatten eines Dichters im Trainingsanzug ertragen, aber wer einmal die Gestalt eines Verliebten angenommen hat, ißt und trinkt alles, Teller voll Disteln, Fässer voll Essig. Am ersten Abend nahm ich sie mit ins Tavares in der Rua da Misericórdia. Tausend Spiegel und ein Schrank voll Gold. Es ist kein Masochismus, wenn ich heute abend wieder dorthin gehe. Ich gehe aus Gründen der Verifizierung. Ich will mich sehen, und tatsächlich, da bin ich, gespiegelt in einem Meer von Spiegeln, die mich immer weiter wegwerfen mit meinen Rücken, das Licht der Lüster in meinen tausend Brillengläsern. Umringt von immer mehr Obern werde ich zu meinem Tisch geleitet, Dutzende von Händen zünden Dutzende von Kerzen an, ich bekomme bestimmt zwölf Speisekarten und fünfzehn Gläser Sercial, und als sie endlich alle fort sind, sehe ich mich da sitzen, vielfach, vielseitig, meine unausstehliche Rückseite, meine verräterische Seitenansicht, meine unzähligen Arme, die sich nach meinem einen Glas, meinen zahllosen Gläsern ausstrecken. Aber sie ist nicht da. Nichts können Spiegel, nichts können sie festhalten, keine Lebenden und keine Toten, es sind elende gläserne Lakaien, Zeugen, die fortwährend Meineide schwören.
Sie wurde ganz aufgeregt, damals, sie hielt den Kopf immer wieder anders, schaute aus verschiedenen Blickwinkeln, taxierte ihren Körper, wie nur Frauen das können, sah ihn, wie andere ihn sahen. Mit all diesen rothaarigen Frauen würde ich an diesem Abend schlafen, sogar mit der fernsten, dort ganz hinten, rote Flecken im schwarzen Feld der hin und her eilenden Ober, und ich, ich wurde immer kleiner, und während sie ihre Hand auf meine legte und all diese Hände zärtlich durch das Bild wimmelten, schloß ihr Blick mich aus, meine Dimensionen schwanden, während ihre wuchsen, sie sog die Blicke der Gäste und Ober in sich ein, sie hatte noch nie so sehr existiert. So voll machte sie die Spiegel, daß ich sie jetzt noch darauf suche, doch ich sehe sie nicht. Irgendwo in der archivalischen Software hinter dieser glänzenden Stirn des Mannes, der mich ansieht, dort hält sie sich auf, redend, lachend, essend, mit den Obern flirtend, eine Frau, die mit ihren ach so weißen Zähnen in den Portwein beißt, als wäre er aus Fleisch. Ich kenne diese Frau, sie ist noch nicht die Fremde von später. Spazierengegangen waren wir an jenem
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