Die folgende Geschichte
Abend, sogar nach zwanzig Jahren brauchte ich keine Brotkrumen, um den Weg wiederzufinden, ich folgte der Route meines Verlangens. Ich wollte zu diesem merkwürdigen Vorbau am Praça do Comércio, wo zwei Säulen im sanft wogenden Wasser stehen wie ein Tor zum Ozean und der restlichen Welt. Der Name des Diktators steht da, aber er selbst ist verschwunden mitsamt seinem anachronistischen Imperium, das Wasser nagt leise an diesen Säulen. Findest du dich noch in meinen Zeiten zurecht? Sie gehören jetzt alle der Vergangenheit an, ich war für einen Moment entfleucht, entschuldige bitte. Hier bin ich wieder, das Unvollendete, das in der Vergangenheit über die Vergangenheit nachdenkt, Imperfekt über Plusquamperfekt. Dieses Präsens war ein Irrtum, das gilt nur dem Jetzt, gilt dir, auch wenn du keinen Namen hast. Wir sind hier schließlich beide präsent, noch.
Ich setzte mich, wo ich mit ihr gesessen hatte, und beschwor sie in Gedanken, doch sie kam nicht, alles, was mich umgab, war ein Fächer ohnmächtiger Worte, die noch ein einziges Mal die Farbe ihres Haares benennen wollten, ein Wettstreit zwischen Zinnoberrot, Kastanie, Blutrot, Rosarot, Rost, und nicht eine dieser Farben war ihre Farbe, ihr Rot entglitt mir, sowie ich es nicht mehr sehen konnte, und dennoch suchte ich weiter nach etwas, das sie zumindest äußerlich festlegen könnte, als sollte an diesem Ort des Abschieds ein Protokoll geschrieben werden, als wäre es Arbeit, officium. Doch was ich auch tat, der Platz neben mir blieb leer, genauso leer wie der Stuhl neben dem Standbild Pessoas vor dem Café A Brasileira in der Rua Garrett. Der hatte seine Einsamkeit zumindest selbst gewählt, wenn jemand neben ihm gesessen hätte, wäre er selbst es gewesen, eines seiner drei anderen Ichs, die sich gemeinsam mit ihm schweigend und mit Bedacht in der dunklen Spelunke dahinter zu Tode gesoffen hatten, zwischen den hohen Stühlen mit dem schwarzen Leder und den kupfernen Knöpfen, den verzerrenden Spiegeln der Heteronyme, den durch die Luft schwebenden griechischen Tempeln an den Wänden und der schweren Uhr von A. Romero hinten im schmalen Saal, die von der Zeit trank wie die Gäste von dem schwarzen, süßen Todestrank in den kleinen, weißen Tassen.
Ich versuchte mich zu erinnern, worüber wir an jenem Abend gesprochen hatten, aber wenn es nach meiner Erinnerung ging, so hatten wir über nichts gesprochen, wir hatten da stumm zwischen denselben gesessen, die jetzt da saßen, dem eingenickten Losverkäufer, den flüsternden Matrosen am Rande des Wassers, dem einsamen Mann mit seinem ach so leisen Radio, den beiden Mädchen mit ihren Geheimnissen. Nein, diese Nacht gab die Worte nicht zurück, sie schwebten irgendwo anders in der Welt, sie waren gestohlen für andere Münder, andere Sätze, sie waren Teil von Lügen geworden, von Zeitungsmeldungen, Briefen, oder sie lagen an irgendeinem Strand am anderen Ende der Welt, angespült, leer, unverständlich.
Ich stand auf, fuhr mit den Fingern über die fast abgegriffenen Worte in der Säule, die von dem Reich sprachen, das nie untergehen würde, sah, wie das Wasser im Dunkel fortströmte und die Stadt hinter sich ließ wie ein schlafendes Knochengerüst, eine Hülse, in der ich mich verkriechen würde, als stünde mein Bett nicht in einer anderen Stadt, an einem anderen, nördlichen Wasser. Der Nachtportier grüßte mich, als hätte er mich auch gestern und vorgestern gesehen, und gab mir, ohne daß ich danach zu fragen brauchte, den Schlüssel zu meinem Zimmer. Ich machte das Licht nicht an und tastete mich vor, jemand, der gerade erblindet ist. Ich wollte mich nicht im Spiegel sehen, und ich wollte auch nicht mehr lesen. Es war kein Raum mehr für Worte. Wie lange ich geschlafen habe, weiß ich nicht, aber wieder war es, als zöge eine unvorstellbare Kraft mich mit oder als triebe ich in einer Brandung, gegen die ein kümmerlicher Schwimmer wie ich nichts ausrichten konnte, eine große, alles verschlingende Woge, die mich an einen verlassenen Strand warf. Da lag ich ganz still, das Wasser rann mir übers Gesicht, und durch diese Tränen sah ich mich in meinem Zimmer in Amsterdam liegen. Ich schlief und rollte den Kopf hin und her und heulte, in der Linken hielt ich noch das Foto aus dem Handelsblad. Ich sah auf den roten japanischen Wecker, der immer neben meinem Bett steht. Was ist das für eine Zeit, in der sich die Zeit nicht bewegt? Es war noch nicht später geworden, seit ich schlafen gegangen war. Die
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