Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
Vom Netzwerk:
nordholländischem Tonfall ausgesprochen, aus dunkler Kehle. Das Licht war bereits wieder gelöscht, doch ich wußte, daß das unbestimmte Gefühl, das ich für sie gehegt hatte, plötzlich zu Liebe ernannt war. Tu nicht so umschattet. Die beiden Käfer machten ein bißchen aneinander herum, als sei dies ihr Auftrag, was natürlich auch so ist. Wir sind die einzige Gattung, die von diesem Zweck abgekommen ist. Das gleiche Herumgewurstel wie immer, noch seltsamer, weil die meisten Tiere sich dabei nicht hinlegen, so daß das Herumgemache da auf der Leinwand einem ziellosen Tanz glich, bei dem der eine den anderen ein bißchen herumschwenken muß, alles in tödlicher Stille. Tanzen ohne Musik, das Übereinanderschieben der Panzer muß einen wahnsinnigen Lärm machen. Aber vielleicht haben Käfer ja keine Ohren, ich habe vergessen, danach zu fragen. Die beiden Tanks ließen voneinander ab, der eine fing an, den anderen zu verfolgen. Ich wußte schon längst nicht mehr, wer wer war. Sie schon.
    »Jetzt jagt das Weibchen das Männchen aus dem Grab.«
    Gesumm in der Klasse, die hohen Töne der Mädchen. Dazwischen hörte ich ihr dunkles, beifälliges Lachen und fühlte mich beleidigt.
    Jetzt grub das Weibchen eine zweite Grube, »für die Eikammern«. Wieder so ein Wort. Diese Frau brachte mir neue Wörter bei. Kein Zweifel, ich liebte sie.
    »In zwei Tagen legt sie dort ihre Eier ab. Aber erst macht sie das Aasfleisch weicher.«
    Ihre Eier. Ich hatte noch nie einen Käfer sich erbrechen sehen, doch jetzt sah ich es. Ich saß in der Klasse der Frau, die ich liebte, und sah den hundertfach vergrößerten Science-fiction-Kopf eines Käfers, der Totengräber hieß, grünen Magensaft über eine runde Kugel Aasfleisch ausspucken, die vor einer Stunde noch wie eine tote Ratte ausgesehen hatte.
    »Jetzt frißt sie ein Loch in das Aasfleisch.« Es stimmte. Die Grabmaschine, die Mutter, Eierträgerin, Liebhaberin, Mörderin, mamma , fraß ein Stück aus der Rattenkugel und erbrach es wieder in die kleine Höhlung, die sie gerade mit ihren Zähnen in ebendiese Kugel gegraben hatte. »So macht sie einen Futtertrog.« Aaskugel, Eikammer, Futtertrog. Und die Beschleunigung der Zeit: in zwei Tagen die Eier, fünf Tage danach die Larven. Nein, ich weiß, daß Zeit nicht beschleunigt werden kann. Oder doch? Die Eier sind weiß und glänzend, samenfarbene Kapseln, die Larven sanft geringelt, von der Farbe lebenden Elfenbeins. Mutter beißt ins Rattenpüree, die Larven lecken ihr das Maul aus. Alles hat mit Liebe zu tun. Fünf Stunden später fressen sie selbst, am Tag darauf kriechen sie bereits in den zusammengerollten Kadaver. CAro DAta VERmibus – Fleisch, den Würmern gegeben. Lateinerscherz, sorry. Das Licht ging an, die Vorhänge auf, aber was wirklich anging, war ihr Haar. Draußen schien die Sonne, eine Kastanie bewegte die Zweige im Wind. Frühling, doch in der Klasse hatte sich eine Ahnung vom Tod eingeschlichen, der Zusammenhang zwischen Töten, Paaren, Fressen, Sichverwandeln, die gefräßige, sich bewegende Kette mit Zähnen, die das Leben ist. Die Klasse löste sich auf, wir blieben leicht verlegen stehen.
    »Nächstes Mal Milben und Maden.«
    Sie sagte es herausfordernd, als ob sie sehe, daß ich ein wenig angeschlagen war. Alles, was ich gesehen hatte, schien auf irgendeine Weise mit Wut zu tun zu haben. Wut, oder Wille. Diese mahlenden Kiefer, das mittelalterliche Aufeinanderkrachen der sich paarenden Harnische, die glänzenden, blinden Masken der Larven, die das Panzermaul ihrer Mutter ausleckten, das wahre Leben.
    »The never ending story«, sagte ich. Genial, Sokrates. Noch was gedacht in letzter Zeit?
    Sie blies die Wangen auf. Das tat sie, wenn sie nachdachte.
    »Weiß ich nicht. Irgendwann einmal gibt es bestimmt ein Ende. Es hat doch auch mal einen Anfang gegeben.« Und wieder dieser herausfordernde Blick, als hätte sie gerade die Vergänglichkeit erfunden und wollte die mal an einem Humanisten ausprobieren. Aber so schnell ließ ich mich nicht aus dem Grab jagen.
    »Läßt du dich einäschern?« fragte ich. Mit dieser Frage kann man sich in jeder Gesellschaft sehen lassen. Der Körper des Angesprochenen wird zu Materie degradiert, die zu einem bestimmten Zeitpunkt beiseite geschafft werden muß, und das hat vor allem in erotischen Situationen etwas Pikantes.
    »Wieso?« fragte sie.
    »Ich habe einen Pathologen sagen hören, daß das weh tut.«
    »Unsinn. Na gut, vielleicht spürt man lokal noch

Weitere Kostenlose Bücher