Die folgende Geschichte
auf den Flaggenstock ohne Flagge, der auf die entschwindende Welt zeigt. Denn so war es, wir standen still, und der Turm von Belém, die Hügel der Stadt, die weite Mündung des Flusses, die kleine Insel mit dem Leuchtturm, das alles wurde zu einem Punkt hin gesogen, die Zeit tat etwas mit der sichtbaren Welt, bis diese nur noch ein flüchtiges, langes Ding war, das sich immer träger dehnen ließ. Eine Trägheit, die Schnelligkeit war, du weißt das besser als jeder andere, weil du immer in dieser Traumzeit leben mußt, in der Schrumpfen und Dehnen sich nach Belieben aufheben. Weg, verschwunden war jetzt der letzte Seufzer des Landes, und noch immer standen wir unbeweglich da, nur der Schaum hinter dem Schiff und der erste Tanz der starken Dünung straften den Stillstand Lügen. Das Wasser des Ozeans schien schwarz, es schwankte, wogte, flutete in sich selbst weg, wollte sich immer wieder mit sich selbst bedecken, fließende, glänzende Platten aus Metall, die lautlos einstürzten, ineinander übergingen, füreinander Mulden gruben und sich darin ergossen, die unerbittliche, endlose Veränderung im Immergleichen. Wir starrten alle darauf, alle diese verschiedenen Augen, die ich in den Tagen danach so gut kennenlernen sollte, schienen vom Wasser verzaubert.
Tage, jetzt, wo ich das Wort laut ausspreche, höre ich, wie schwerelos es klingt. Würde man mich fragen, was am schwersten ist, so würde ich sagen, der Abschied vom Maß. Wir kommen nicht ohne aus. Das Leben ist uns zu leer, zu offen, wir haben alles mögliche ersonnen, um uns daran festzuhalten, Namen, Zeiten, Maße, Anekdoten. Laß mich also, ich habe nichts anderes als meine Konventionen und sage also einfach weiter Tag und Stunde, auch wenn sich unsere Reise um deren Schreckensherrschaft nicht zu kümmern schien. Die Sioux hatten kein Wort für Zeit, aber so weit bin ich noch nicht, wenngleich ich schnell lerne. Manchmal war alles endlose Nacht, und dann wieder huschten die Tage wie scheue Momente am Horizont vorbei, gerade genug, um den Ozean zweimal in die verschiedensten Rottöne zu tauchen und dann wieder der Dunkelheit auszuliefern.
In den ersten Stunden sprachen wir nicht miteinander. Ein Priester, ein Pilot, ein Kind, ein Lehrer, ein Journalist, ein Gelehrter. Das war die Gruppe, jemand oder niemand hatte es so beschlossen, in diesem Spiegel sollten wir uns spiegeln. Du wußtest, wohin wir fuhren, und es war genug, daß du es wußtest. Aber so kann ich nicht mit dir sprechen, du kannst nicht gleichzeitig in und außerhalb dieser Geschichte sein. Und ich bin nicht allmächtig, weiß also nicht, was sich in den verborgenen Gedanken der anderen abspielte. Soweit ich es an mir selbst messen konnte, herrschte eine Ruhe, wie zumindest ich sie nie gekannt hatte. Jeder schien mit irgend etwas beschäftigt, schien an einem tieferen Gedanken oder einer Erinnerung zu kauen, manchmal verschwanden sie für längere Zeit irgendwo auf dem Schiff, oder man sah in der Ferne jemanden mit einem Besatzungsmitglied sprechen oder auf der Brücke auf und ab gehen. Der Junge stand oft auf dem Vordeck, niemand störte ihn da, der Priester las in einer Ecke des Salons, der Gelehrte blieb meist in seiner Kajüte, der Pilot starrte nachts durch das Teleskop neben dem Ruderhaus, der Journalist würfelte mit dem Barkeeper und trank, und ich blickte über die ewig wogenden Tücher, dachte nach und übersetzte die bösen Oden aus Buch III. Ja, von Horaz, von wem sonst. Der Verfall Roms, Geilheit, Untergang, Degenerierung. Quid non imminuit dies? Was wird nicht von der Zeit zerstört?
»Warum übersetzen Sie dies mit Zeit?« hatte Lisa d’India gefragt. Auch jetzt noch, auf dieser Reise, mußte ich über ihre Frage lachen. Ihre Tage waren vorbei, sie hatte schon so lange keine Zeit mehr, und doch hatten wir einmal, eines Tages, am Pult gestanden, sie mit der reimenden Übersetzung von James Michie aus den Penguin Classics, ich mit meinen eigenen hingekritzelten Zeilen, und selbst hier kann ich ihre Stimme noch hören, die Graviernadel jener fünf lateinischen Wörter, damnosa quid non imminuit dies? , gefolgt von der nördlichen Zeile, die neun Wörter benötigte, um dasselbe zu sagen: Time corrupts all. What has it not made worse?
Ich hatte etwas Brillantes sagen wollen über die Singularform des einen Tages, die für die Überfülle an Zeit stehen kann, in der alle Tage enthalten sind, und hatte mich in allerlei Unsinn verstrickt über den Kalender als Zählrahmen für das,
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