Die folgende Geschichte
losgeschickt haben, um in neunzigtausend Jahren wenigstens in etwa zu wissen, woran wir sind.
Ich merkte, daß ich allmählich einschlummerte, und zugleich schien eine gewaltige Welle mich zu durchfluten, aufzunehmen, zu umschließen und mit einer Kraft mitzureißen, von der ich nicht wußte, daß es sie gab. Ich dachte an den Tod, wenngleich nicht aus diesem Grund, sondern noch wegen des Fotos. Jeder Gedanke zieht bei mir nun einmal sofort den nächsten nach sich, und durch diese mickrigen Sterne aus Zeitungspapier, die ich in der Hand hielt, sah ich eines dieser gräßlichen Vanitasbilder, die unsere Vorfahren dazu benutzten, um den Gedanken an ihren Tod wachzurufen, irgendein Mönch (wenn irgendwo zwischen den leidenden Disteln an seinen nackten Füßen ein Kardinalshut lag, war es immer der Heilige Hieronymus) an einem Tisch, der abwechselnd auf den Schädel von jemandem starrte, der niemals so geistreich wie Hamlets Yorrick gewesen sein konnte, und auf den Gemarterten am Kreuz. Unheilswolken, unfruchtbare Landschaften, irgendwo ein Löwe. Vielleicht mußten sie sich der Welt widersetzen, da sie noch eine hatten, die unsrige ist ein Foto in einer Zeitung, aus sechs Milliarden Kilometer Entfernung aufgenommen. Daß die Zeitung, die ich in der Hand hielt, sich gleichzeitig auf jenem fahlen Stern befand, das war natürlich das Wunder, aber ich weiß nicht, ob ich das alles noch an diesem Abend gedacht habe. Meist kann ich meine Gedanken durchaus bis zu jenem dummen und demütigenden Augenblick des Einschlafens zurückverfolgen, wenn der Geist dem Körper unterliegt, der sich als ergebener Diener mit der Dunkelheit der Nacht abgefunden hat und nichts lieber will, als Abwesenheit vortäuschen.
Gestern war es anders. Ich merkte, daß der Gedanke, der mich – wie auch immer – beschäftigte, verzweifelt versuchte, mit der trägen Woge in Einklang zu kommen, die mich mitzureißen schien. Das gesamte Universum war darauf aus, mich zu betäuben, und es schien, als versuchte ich, mit dieser Betäubung mitzusingen, dazuzugehören, so wie ein Fisch, der von der Brandung mitgesogen wird, gleichzeitig zu dieser Brandung gehört. Doch was ich auch wollte – fliegen, schwimmen, singen, denken –, es gelang mir nicht mehr. Die stärksten Arme der Welt hatten mich in Amsterdam aufgehoben und, wie es schien, in einem Zimmer in Lissabon wieder abgelegt. Sie hatten mir nichts zuleide getan. Ich spürte keinerlei Schmerz. Ich empfand auch keinen, wie soll ich das sagen, Kummer. Und ich war nicht neugierig, doch das mag durch meinen täglichen Umgang mit Ovids Metamorphosen kommen. Siehe Buch XV, Vers 60-65. Auch ich habe meine Bibel, und sie hilft wirklich. Und außerdem – mein Körper, obwohl wenn ich noch immer nicht in den Spiegel geschaut hatte, fühlte sich an wie er selbst. Das heißt, nicht ich war ein anderer geworden, ich befand mich lediglich in einem Zimmer, in dem ich mich nach den Gesetzen der Logik, soweit ich sie kannte, nicht befinden konnte. Das Zimmer kannte ich, denn hier hatte ich vor gut zwanzig Jahren mit der Frau eines anderen geschlafen.
Das Abgeschmackte dieses Ausdrucks brachte mich in die Welt zurück. Mehr noch, ich zog die Knie an und schob mir das nicht beschlafene Kissen, das neben meinem lag, unter den Kopf, so daß ich halb aufgerichtet saß. Es geht nichts über ein richtiges Déjà-vu, und da hingen sie immer noch, das alberne, aus dem siebzehnten Jahrhundert stammende Porträt des überschätzten Dichters Camões sowie der Stich vom großen Erdbeben in Lissabon, auf dem kleine gesichtslose Figuren in alle Richtungen rennen, um nicht unter den einstürzenden Trümmern begraben zu werden. Darüber hatte ich noch Witze gemacht, ihr gegenüber, doch sie mochte derlei Witze nicht. Dafür war sie nicht in diesem Zimmer. Sie war in diesem Zimmer, um Rache zu nehmen, und dafür brauchte sie mich nun einmal. Liebe ist der Zeitvertreib der Bourgeoisie, hatte ich einmal gesagt, aber ich meinte natürlich einfach den Mittelstand. Und jetzt war ich also verliebt und dadurch zum Mitglied ebenjenes faden, zusammengewürfelten Vereins gleichgeschalteter Automaten geworden, den ich angeblich so sehr verabscheute. Ich versuchte mir selbst weiszumachen, daß es sich hier um Leidenschaft handelte, doch wenn es bei ihr so war, dann galt diese Leidenschaft jedenfalls nicht mir, sondern ihrem blutleeren Ehemann, einer Art Riese aus Kalbfleisch, glatzköpfig, mit einem ewig grinsenden Gesicht, als würde er
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