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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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jetzt (da haben wir dieses Wort wieder) zum erstenmal Sokrates geworden war. Bart, Brille, das Drum und Dran tat nichts mehr zur Sache. Der, der dort stand, der, den ich nie geliebt habe, erweckte Liebe in mir. Aber warum? Das Barbarische an diesem Gesicht hatte mich mein Leben lang begleitet, doch nun war ein anderes Element hinzugekommen, etwas, das ich nicht deuten konnte. Was war mit mir? Etwas war mit mir passiert, und ich wußte nicht, was, etwas, bei dem meine unerwartete Anwesenheit hier nur ein belangloses Detail war.
    Ich streckte die Zunge heraus, das tue ich öfter. In all ihrer schweineähnlichen Einfachheit ist sie noch einer meiner anziehendsten Körperteile, doch wenn ich sie mir vor dem Spiegel herausstrecke, hilft mir das meist sehr gut, mich zu konzentrieren. Man kann es auch eine Form von Meditation nennen, die mich wieder auf einen früheren Gedanken bringt. Und mit einem Mal wußte ich, was ich am vorigen Abend, wenn es der vorige Abend gewesen war, gedacht hatte. Die Woge, die mich im Schlaf oder Halbschlaf durchflutet hatte, war Angst gewesen, physische Angst, ich könnte von der Erde, die da so lose und schutzlos im Raum hing, herunterfallen. Ich versuchte, diese Angst jetzt wieder wachzurufen, aber es ging nicht mehr, mit aller Newtonschen Sicherheit stand ich wie angenagelt auf den roten Fliesen des Bads von Zimmer 6 im Essex House in Lissabon und dachte an Maria Zeinstra, Biologielehrerin am selben Gymnasium, an dem auch ihr Mann, Arend Herfst, unterrichtete. Und ich natürlich. Während sie erklärte, wie das Gedächtnis funktioniert und wie Tiere sterben, sprach ich, nur durch einen Dezimeter Backstein von ihr getrennt, von Göttern und Helden oder den Tücken des Aorist, während aus seiner Klasse schmieriges, pubertäres Gelächter ertönte, denn er sprach wie gewöhnlich von gar nichts und war daher wahnsinnig beliebt. Ein leibhaftiger Dichter und dann noch einer, der die Basketballmannschaft der Schule trainiert, das ist schließlich etwas anderes als ein wie Sokrates aussehender Zwerg, der nur ein paar Leichen anzubieten hat von zweitausend Jahre zuvor gestorbenen Exemplaren ebenjener Spezies, die die Schönheit ihrer Sprache hinter den Schanzen einer hermetischen Syntax so versteckt hat, daß die Bewunderer lebender Klassiker wie Prince, Gullit und Madonna keine Spur davon wiederfinden können. Ausgenommen, ganz selten, in einem Jahr der Gnade, jener eine Schüler, der den penetranten Geruch von Unlust und Widerwillen, der einem entgegenschlägt, vergessen läßt, einer, der sich auf dem mitreißenden Wellenschlag der Hexameter mitschwingen läßt, einer mit einem Ohr für Musik, der bravourös alle Kasus-Hindernisse nimmt, der Linie der Gedanken folgt, die Verbindungen erkennt, das Gebäude, die Schönheit. Schon wieder dieses Wort, doch das läßt sich nicht ändern. Ich war häßlich, und Schönheit war meine Leidenschaft, nicht die sichtbare, unmittelbar greifbare, sondern jene andere, um soviel geheimnisvollere Variante, die sich hinter dem abweisenden Panzer einer toten Sprache verbarg. Tot! Wenn diese Sprachen tot waren, dann war ich Jesus, der Lazarus von den Toten auferstehen lassen konnte. Und in jenem einen Jahr der Gnade gab es jemanden, der das sah, nein, schlimmer noch, der es selbst konnte.
    Lisa d’India fehlte mein Wissen, doch das war einerlei. Jede Zeile Latein, über die sie sich beugte, begann zu schwingen, zu leben, zu fließen. Sie war ein Wunder, und wenn ich auch nicht weiß, weshalb ich hier bin, so weiß ich doch in jedem Fall, daß sie etwas damit zu tun hat.
    Jetzt trete ich einen Schritt zurück, doch das Seltsame bleibt, als würde ich von innen heraus leuchten. Wenn es gestern abend Angst war, so ist es jetzt Rührung. Essex House, idiotischer Name für ein portugiesisches Hotel. Rua das Janelas Verdes, unweit des Tejo. »Ich fühle mich innen verderben, jetzt weiß ich, woran ich werd’ sterben / An den Ufern des Tejo, wo das Leben wie nirgendwo …« Slauerhoff. 4 Ich weiß noch, daß ich der Klasse von der in kaum einer Sprache wiederzugebenden vertrackten Funktion der Präposition an in dieser Zeile erzählte. Nur im Niederländischen und im Deutschen könne man an Krebs und am Tejo sterben, doch niemand lachte, nur sie. Ich muß aus diesem Bad raus, meine eigene Anwesenheit wird mir zuviel. Ich frage mich, ob ich Hunger habe, und meine, nein. Ich bestelle den Roomservice fürs Frühstück. Prima almoço , ich hatte vergessen, daß ich

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