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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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wird.
    Banalitas banalitatis , das war die Beschwörungsformel, mit der ich zwanzig Jahre lang selbst den entferntesten Gedanken an die Ereignisse jener Tage zu vermeiden verstanden habe. Was mich anbelangt, so hatte ich vom Wasser des Flusses Lethe getrunken: Für mich gab es keine Vergangenheit mehr, nur noch Hotels mit zwei, drei oder fünf Sternen und den Blödsinn, den ich dazu schrieb. Das sogenannte wirkliche Leben hatte sich ein einziges Mal in meine Angelegenheiten eingemischt, und es hatte in nichts dem geglichen, worauf Worte, Verse, Bücher mich vorbereitet hatten. Schicksal gehörte zu blinden Sehern, Orakeln, Chören, die den Tod verkünden, es gehörte nicht zu dem Gekeuche neben dem Kühlschrank, Gefummel mit Kondomen, dem Warten in einem Honda um die Ecke und heimlichen Verabredungen in einem Lissabonner Hotel. Nur das Geschriebene existiert, alles, was man selbst tun muß, ist formlos, dem reimlosen Zufall unterworfen. Und es dauert zu lange. Und wenn es böse endet, stimmt das Versmaß nicht, man kann nichts streichen. So schreib doch, Sokrates! Aber nein, er nicht und ich nicht. Schreiben, wenn bereits geschrieben ist, das ist etwas für die Hochmütigen, die Blinden, diejenigen, die nicht um ihre eigene Sterblichkeit wissen.
    Nun wäre ich gern eine Weile still, um all diese Worte hinunterzuspülen. Du hast mir nicht gesagt, wieviel Zeit ich für diese Geschichte habe. Ich kann nichts mehr messen. Ich würde jetzt gern ein Madrigal von Sigismundo d’India hören. Klarheit, Timing, nur Stimmen, das Chaos der Gefühle in die Ordnung der Komposition gezwängt. Bei mir zu Hause hatte sie zum erstenmal ein Madrigal von d’India gehört. Dein Vorfahr, sagte ich, als machte ich ihr ein Geschenk. Ein Flegel, ich. Immer gewesen. Der kastenlose Lehrer neben der fürstlichen Schülerin. Sie stand vor meinem Bücherschrank, meinem einzigen wahren Stammbaum, die wundersam lange Hand in der Nähe von Hesiod, Horaz, drehte sich um und sagte, mein Vater ist Metallarbeiter, als wolle sie den Abstand zwischen sich selbst und der Musik so groß wie möglich machen. Doch ich war nicht verliebt in sie, ich war verliebt in Maria Zeinstra.
    Raus aus dem Zimmer! Aus welchem Zimmer? Aus diesem hier, dem Zimmer in Lissabon. Sokrates hat Angst, Dr. Strabo wagt sein Gesicht nicht zu zeigen, Herman Mussert weiß nicht, ob er hier überhaupt registriert ist. »Wo kommt denn dieses komische Männeken her?« »Welches Zimmer hat er?« »Hast du ihn denn eingetragen?«
    Nichts von alledem. Ich nehme meinen Michelin, den Stadtplan von Lissabon. Natürlich lag alles bereit. Reiseschecks, Escudos in meiner Brieftasche, jemand liebt mich, ipsa sibi virtus praemium 5 . Und die Angst war umsonst, denn die strahlende Nymphe, der ich meinen Schlüssel gebe, bedeckt mich mit dem Glanz ihrer Augen und sagt: »Bom dia, Doutor Mussert.« August, der Monat des Erhabenen, die hellvioletten Trauben der Glyzinie, der überschattete Patio, die Steintreppe nach unten, derselbe Portier von damals, zwanzig Jahre in der Zeit geschmort, ich erkenne ihn wieder, er tut, als erkenne er mich. Nach links muß ich, zu der kleinen pastelaria , in der sie sich mit dotterfarbenen kleinen brioches vollstopfte, der Honig lackt ihre gierigen Lippen. Nix lackt. Lackte! Die pastelaria gibt es noch, die Welt ist ewig. Bom dia! Aus Pietät esse ich so ein Ding, um den Geschmack ihres Mundes noch einmal zu kosten. Cafezinho , stark, bitter, mehr mein eigener Beitrag. Bittersüß gehe ich zum Kiosk gegenüber, kaufe den Diário de Notícias , doch die Neuigkeiten der Welt haben für mich keine Gültigkeit. Übrigens genausowenig wie damals. Jetzt ist es der Irak, was es damals war, weiß ich nicht mehr. Und Irak ist eine späte Maske für mein eigenes Babylonien, für Akkad und Sumer und das Land der Chaldäer. Ur, Euphrat, Tigris und das herrliche Babylon, Bordell der hundertfachen Sprache.
    Ich merke, daß ich irgendeine Melodie summe, daß ich den flotten Schritt meiner besten Tage habe. Ich gehe zum Largo de Santos, dann zur Avenida 24 de Julho. Rechts von mir der kleine Zug und die Spielzeugstraßenbahnen in ihren Kinderfarben. Dahinter muß er liegen, mein Fluß. Warum es von allen Flüssen gerade dieser Fluß war, der mich so bewegte, weiß ich nicht, es muß jene erste Vision gewesen sein, vor so langer Zeit, 1954, als Lissabon noch Hauptstadt eines zerfallenden Weltreichs war. Wir hatten Indonesien bereits verloren und die Engländer Indien, doch an diesem

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