Die folgende Geschichte
Portugiesisch konnte. Die Stimme, die antwortet, ist ruhig, freundlich, jung. Eine Frau. Keine Spur von Erstaunen, auch nicht bei dem Mädchen, das das Frühstück bringt. Oder täusche ich mich, ist etwas Ehrerbietiges in ihrer Haltung, eine Ehrerbietung (was für ein lächerliches Wort im Grunde genommen), mit der ich von seiten des Bedienungspersonals meist nicht zu rechnen brauche. Ich setze mich im Schneidersitz auf den Boden und breite das Frühstück um mich aus. Ich weiß, jetzt muß ich mit der Arbeit des Erinnerns beginnen. Das will das Zimmer. Ich habe genau das gleiche Gefühl wie früher, wenn ich einen Stapel Herodot-Übersetzungen zu korrigieren hatte. Ich habe immer eine Schwäche für diesen durchsichtigen Phantasten gehabt, ersonnene Geschichte ist reizvoller als die langweilige Schreckensherrschaft der Fakten. Doch das Erwürgen der ohnehin nicht besonders glänzenden Prosa des alten Fabulanten durch meine Schüler nahm mir natürlich jegliche Lust. Es sei denn, eine Übersetzung von ihr war dabei, und sei es allein deswegen, weil sie manchmal etwas dazuerfand, das einfach nicht dastand, eine persische Sitte, eine lydische Prinzessin, einen ägyptischen Gott.
Ich war der einzige der gesamten Schule, Direktor, Lehrer, Lehrerinnen, Hilfskräfte inbegriffen, der nicht in Lisa d’India verliebt war. Sie war nicht nur bei mir gut, sie war in allen Fächern gut. In Mathematik war sie die Klarheit, in Physik der Geist der Entdeckung, und bei den Sprachen schlüpfte sie in die Seele der Sprache. In der Schulzeitung standen ihre ersten Erzählungen, und das waren die Erzählungen einer Frau zwischen den Erzählungen von Kindern. Der entscheidende Treffer, mit dem unsere Schule das Basketballturnier gewonnen hatte, stammte von ihr. Körperliche Schönheit war bei alledem natürlich überflüssig, doch es war so, zwischen den sechzig Augen in einer Klasse konnte man ihren nicht ausweichen. Sie hatte weiße Strähnen in ihrem schwarzen Haar, als hätte sie schon sehr lange gelebt, das Zeichen einer anderen Zeitordnung in der Domäne der Jugend, als wüßte ihr Körper bereits, daß sie früh sterben müsse. Ich nannte sie insgeheim Graia, nach den Töchtern von Keto und Phorkys, die mit weißem Haar geboren wurden, von einem schrecklichen Alter befallen. Einmal sagte ich das zu ihr, und sie sah mich mit dem Blick von Menschen an, die einen eigentlich nicht sehen, weil sie mit ihren Gedanken irgendwo anders sind oder weil man etwas gesagt hat, das an einen geheimen Bereich ihrer Person rührt, etwas, was sie bereits wissen, das sie jedoch vor anderen verbergen wollen.
Sie war die Tochter eines Ehepaars aus der ersten Generation von Gastarbeitern, Italienern, die gemeinsam mit Türken, Spaniern und Portugiesen den ersten Anstoß dazu geben sollten, die Niederlande von ihrem ewigen Provinzialismus zu erlösen. Wenn ihr Vater, ein Metallarbeiter aus Catania, gewußt hätte, daß Arend Herfst ein Verhältnis mit ihr hatte, hätte er ihn wahrscheinlich totgeschlagen oder wäre schreiend zum Direktor gerannt, der es selbst schon schwer genug hatte, weil er sie an den gräßlichen Herfst hatte abtreten müssen. Wieso diese Dinge nicht früher herauskamen, weiß ich nicht, es schien, als ob jeder, Schüler wie Lehrer, einen Schleier des Schweigens um sie gewoben hatte, vielleicht, weil wir alle wußten, daß es dann vorbei wäre, daß sie dann entschwinden würde. Wir, das heißt auch ich. Doch ich war nicht verliebt in sie, das war mir nicht möglich, ich habe meinen kategorischen Imperativ fest in meinem System verankert, es gehört sich nicht, und dann kann ich es nicht. Die paar Jahre, die sie in meiner Klasse saß, habe ich eine Art von Glück erlebt, die zwar mit Liebe zu tun hatte, doch nicht mit der vulgären Variante, die jeden Tag von allen Bildschirmen strahlt, und auch nicht mit dieser verwirrenden, törichten und nicht zu kontrollierenden Empfindung, die man Verliebtheit nennt. Von dem Elend, das damit einhergeht, wußte ich mehr als genug. Ein einziges Mal in meinem Leben habe ich dann doch zu den gewöhnlichen Menschen gehört, den Sterblichen, den anderen, denn ich war in Maria Zeinstra verliebt. Ein einziges Mal, und gleich war es verhängnisvoll für alle Parteien.
Ich bin froh, daß die anderen weg sind und daß ich es nur dir zu erzählen brauche, auch wenn du selbst jemand aus meiner Geschichte bist. Aber das weißt du schon, und ich lasse dich so. Dritte Person, bis es mir zu schwierig
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