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Die folgende Geschichte

Die folgende Geschichte

Titel: Die folgende Geschichte Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Cees Nooteboom
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Fluß schienen die Gesetze der realen Welt nicht zu gelten. Sie hatten Timor noch und Goa, Macao, Angola, Moçambique, ihre Sonne war noch immer nicht untergegangen, in ihrem Reich war es irgendwo immer Tag und zugleich Nacht, so daß es schien, als hielten sich die Menschen, die ich sah, am hellichten Tag im Reich des Schlafes auf. Männer mit weißen Schuhen, wie man sie damals im Norden schon nicht mehr sah, spazierten Arm in Arm entlang dem breiten, braunen Fluß und sprachen in einem umflorten, gedehnten Latein miteinander, das für mein Gefühl etwas mit Wasser zu tun hatte, dem Wasser von Tränen und dem Wasser der Weltmeere, der manuelischen Schiffstaue und ihrer Knoten, die die Bauwerke der früheren Könige schmückten, bis hin zu den kleinen Booten, die emsig hin und her fuhren nach Caçilhas und Barreiro, und dem düsteren Abschiedszeichen Torre de Belém, dem letzten, was die in See stechenden Entdecker von ihrem Vaterland sehen sollten, und dem ersten, was sie erblickten, wenn sie nach Jahren zurückkehrten. Sofern sie zurückkehrten. Ich war zurückgekehrt, ich war an dem pathetischen Standbild des Duque de Terceira vorbeigegangen, der Lissabon im vorigen Jahrhundert von irgend etwas befreit hatte, ich hatte zwischen den Straßenbahnen den Cais do Sodre überquert, und jetzt stand ich am Fluß, demselben von einst und damals, nur kannte ich ihn jetzt besser, ich kannte seinen Ursprung in einem grünen Feld irgendwo in Spanien in der Nähe von Cuenca, ich kannte die Felswände, die er bei Toledo ausgewaschen hat, seinen breiteren, trägeren Fluß durch die Estremadura, ich kannte seine Herkunft, ich hörte das Rauschen des Wassers in der Sprache um mich her. Später (viel später) hatte ich einmal zu Lisa d’India gesagt: »Latein ist das Wesen, Französisch der Gedanke, Spanisch das Feuer, Italienisch die Luft (ich sagte natürlich Äther), Katalanisch die Erde und Portugiesisch das Wasser.« Sie hatte gelacht, hoch, hell, nicht aber Maria Zeinstra. Vielleicht war es sogar an derselben Stelle, an der ich jetzt stehe, wo ich es an ihr ausprobierte, doch ihr sagte das nichts. »Für mich ist Portugiesisch eine Art Geflüster«, sagte sie, »ich verstehe kein Wort. Und das mit dem Wasser, das kommt mir ziemlich weit hergeholt vor, zumindest nicht gerade wissenschaftlich.« Dem hatte ich, wie gewöhnlich, nichts entgegenzusetzen. Ich war schon froh, daß sie da war, auch wenn sie meinen Fluß zu braun fand. »Kann man sich vorstellen, was da alles drin ist.«
    Ich wende mich der Stadt zu, die langsam ansteigt, und weiß, daß ich hier etwas suche, aber was? Etwas, das ich wiedersehen will und das ich erst erkennen werde, wenn ich es sehe. Und dann sehe ich es, ein komisches kleines Gebäude mit einer riesigen Uhr, fast ein Steinschuppen, der ganz aus Uhr besteht, groß, rund, weiß, mit mächtigen Zeigern, sie zeigen die Zeit an, verwalten sie. HORA LEGAL steht mit großen Buchstaben darüber, und in dem lockeren Wirrwarr dieses Platzes klingt das tatsächlich wie ein Gesetzestext: Wer immer und wo immer der Zeit etwas anhaben will, wer sie dehnen, aufhalten, fließen lassen, lahmlegen, beugen will, der wisse, daß an meinem Gesetz nicht zu rütteln ist, meine ehrfurchtgebietenden Zeiger zeigen das ätherische, ephemere, nicht existierende Jetzt an, und das tun sie immer. Sie kümmern sich nicht um die korrumpierende Teilung, die Hurenhaftigkeit des Jetzt der Gelehrten, das meine ist das einzige, wirkliche, dauernde Jetzt, und immer wieder aufs neue dauert es sechzig wohlgezählte Sekunden, und jetzt, genau wie damals, stehe ich da und zähle und schaue auf den großen, schwarzen eisernen Zeiger, der auf die leere weiße, in Segmente aufgeteilte Fläche zwischen 10 und 15 zeigt, bis er mit einem Ruck zur nächsten leeren Fläche springt und befiehlt, bestimmt, sagt, daß es jetzt dort jetzt ist. Jetzt?
    Eine flüchtige Taube setzte sich auf den Halbbogen über der Uhr, als wollte sie damit etwas verdeutlichen, aber ich war nicht von meinem inneren Konzept abzubringen. Uhren hatten meiner Ansicht nach zwei Funktionen. Erstens, den Leuten zu sagen, wie spät es ist, und zweitens, mich mit der Überzeugung zu durchdringen, daß die Zeit ein Rätsel ist, ein zügelloses, maßloses Phänomen, das sich dem Verständnis entzieht und dem wir, mangels besserer Möglichkeiten, den Schein einer Ordnung gegeben haben. Zeit ist das System, das dafür sorgen soll, daß nicht alles gleichzeitig geschieht, diesen Satz

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