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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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trainiert wurden. Dass ich nämlich Merkmale wie Augen und Nasen so wirksam identifizieren kann, liegt auch nur daran, dass mein eigenes Gehirn vorher ein solches Training durchlaufen hat.
    (72) Sichtpunkte von sieben neuronalen Augen auf einem Rembrandt und einem Modigliani. Links: Ausschnitt aus Porträt der Maria Trip . Rembrandt van Rijn, 1639. Rijksmuseum, Amsterdam. Rechts: Ausschnitt aus Porträt der Jeanne Hébuterne (Kopf im Profil) . Amedeo Modigliani, 1917–18.
    Betrachten wir auf diese Weise viele Porträts, so ergibt sich mit der Zeit eine Durchschnittsstelle für jedes neuronale Auge. Wie dieser Durchschnitt aussehen könnte, zeigt Abbildung 73. Dieses Bild beruht darauf, dass ich die Positionen neuronaler Augen auf 179 Porträts verschiedener Künstler übereinandergelegt habe, darunter Rembrandt, Modigliani und Leonardo da Vinci. 109 Außer den sieben Stellen, die in Abbildung 72 zu sehen sind, wurden noch weitere Stellen berücksichtigt, die zusätzlichen neuronalen Augen entsprechen. Daraus wurde diedurchschnittliche Lage dieser neuronalen Augen in allen Porträts festgelegt (für unsere sieben neuronalen Augen wird sie in Abbildung 73 links dargestellt). Daraufhin wurden alle Porträts an diesen durchschnittlichen Punkten ausgerichtet und übereinandergelegt, also ein Durchschnittsporträt generiert, das auf einer Sammlung von 179 Einzelporträts beruht.
    (73) Durchschnittsporträt, für das die Stellen, die neuronale Augen im Mittel betrachten, übereinandergelegt wurden (links). Die 179 der Mittelung zu Grunde liegenden Porträts stammen von Rembrandt, Modigliani, Leonardo da Vinci, Velázquez, Soutine, Giotto, Duccio, Freud und Auswahl römischer Mumienporträts.
    Dieses Durchschnittsporträt stellt eine Erwartung oder ein Modell dafür dar, wohin unsere neuronalen Augen fortan tendieren. Betrachten wir irgendein einzelnes Porträt, so richten sich die neuronalen Augen allerdings nie ganz genau auf diese Durchschnittspunkte, sondern weichen zu einem gewissen Grad davon ab. Die neuronalen Augen auf den Porträts von Rembrandt und Modigliani in Abbildung 72 zum Beispiel liegen nicht genau an derselben Stelle wie die auf unserem Durchschnittsporträt. Daher weist jedes einzelne Porträt eine Abweichung von unserem Durchschnitt auf, eine Diskrepanz zu unserer Erwartung. Die Diskrepanzen wiederum sind aber nicht beliebig, sondern weisen gewisse Tendenzen auf. Ist das porträtierte Modell nach links gewandt, so verschieben sich viele unserer neuronalen Augen gemeinsam in derselben Richtung. Lächelt das Modell, so bewegen sich die neuronalen Augen in der Mundgegend koordiniert nach oben. Diese Tendenzen können wir mit Korrelationsneuronen erfassen. Über Verstärkung, Wettbewerb und Kooperation können diese Neurone die verschiedenen Tendenzen herausarbeiten – als erwartetes Ausmaß der Abweichung unserer neuronalen Augen von ihrer Durchschnittspositionierung, wenn die 179 Porträts unserer Population betrachtet werden.
    Das neuronale Korrelieren und Herausarbeiten lässt sich mit dem Computer simulieren. 110 Mit den Details brauchen wir uns hier nicht aufzuhalten; wichtig ist nur, dass der Computer die Tendenzen berechnet, die von bestimmten Korrelationsneuronen erfasst werden können. Für zwei Korrelationsneurone stellt Abbildung 74 das Ergebnis dar. In der Mitte sehen wir jeweils das Durchschnittsporträt, und die Bilder rechts und links zeigen die Tendenzen, die die Korrelationsneurone erfassen. Oben hat das Neuron gelernt, auf Varianten in der Form von Hals und Gesicht zu reagieren, die in der Porträtpopulation auftreten. Es feuert stark bei Porträts mit langem Hals, langer Nase, schmalem Kopf und schmalen Lippen, und wenig bei Porträts mit entgegengesetzten Merkmalen. Das Neuron, das diesen Aspekt erlernt hat, nenne ich das Neuron »langer, schmaler Kopf«; es ist also nach dem Merkmal benannt, bei dessen Auftreten es stark feuert. Ich meine damit nicht, dass wir ein Neuron »langer, schmaler Kopf« im Gehirn haben. Die Eigenschaften dieses Neurons sind eine Folge der relativ künstlichen Aufgabe, die wir uns gestellt haben: Wir wollen herausfinden, nach welchen Tendenzen einander entsprechende Positionen in einer Auswahl von 179 Porträts variieren. Zwar besitzt unser Gehirn höchstwahrscheinlich Korrelationsneurone, doch es ist eher unwahrscheinlich, dass eines davon genau diese Reaktion zeigt. Das Neuron »langer, schmaler Kopf« illustriert aber, wie sich durch neuronale

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