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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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eine Karikatur von Modiglianis Stil. Dass diese Zeichnung so stark einer Karikatur ähnelt, ist kein Zufall – Karikaturen funktionieren nämlich genau deshalb, weil sie besonders treffsicher Neurone wie unser Modigliani-Neuron stimulieren, die normalerweise an der Wiedererkennung des Motivs beteiligt sind. Karikaturisten sind Experten im Manipulieren unserer Neurone. 111
    (77) Kontur für sehr hohe Feuerungsraten des Modigliani-Neurons (rechts) im Vergleich zum Durchschnitt (links).
    Das Modigliani-Neuron können wir jetzt dafür nutzen, um zu bestimmen, ob ein Porträt, das wir noch nie gesehen haben, möglicherweise von Modigliani stammt. Feuert bei der Betrachtung des Porträts das Modigliani-Neuron stark, so sind wir uns ziemlich sicher, dass wir einen Modigliani betrachten und keinen Rembrandt. Wir haben Elemente von Modiglianis Stil erlernt. Ein Kunstexperte kann einen Stil ähnlich zu erkennen lernen. Durch das Studium vieler bekannter Beispiele baut er neuronale Modelle oder Erwartungen an die Arbeit eines Künstlers auf. Existieren einmal geeignete Modelle, kann die Arbeit eines Künstlers die entsprechenden Neurone im Hirn des Experten stimulieren, so dass er den Künstler identifizieren kann, selbst wenn keine Beschriftung vorliegt. Experten lernen nie im Vakuum; sie nutzen Vorkenntnisse über Gegenstände bekannter Herkunft und entwickeln daraus Modelle, um später unbekannte Gegenstände richtig einzuordnen.
    Mein Beispiel – das Herausarbeiten von Tendenzen aus einer Auswahl von Porträts durch neuronale Wechselwirkung – war natürlich höchst künstlich und vereinfacht. Ich habe nur wenige Tendenzen aus einer begrenzten Porträtsammlung beschrieben. Auch habe ich nur wenige neuronale Augen berücksichtigt und Bildmerkmale wieKontrast oder Farbe ganz weggelassen. In der Praxis verfügen wir über sehr viel mehr neuronale Muster, aus denen wir lernen können, und so können wir Stile sehr viel differenzierter unterscheiden. Deshalb können wir auch sehen, dass Modiglianis Gemälde Oscar Miestchaninoff sich von einem Rembrandt unterscheidet, obwohl es sich in unserem Diagramm mit Rembrandts Gruppe überschneidet. Die Grundprinzipien der Stilanalyse dürften sich aber kaum von dem unterscheiden, was ich für das Modigliani-Neuron beschrieben habe.
    Um die Vorstellung vom Modigliani-Neuron zu entwickeln, brauchte ich keine neuen Grundprinzipien einzuführen, sondern nur weitere Interaktionsstufen in unserem neuronalen Schema. Das Modigliani-Neuron unterscheidet sich nicht von jedem anderenNeuron; seine Eigenschaften erhält es allein durch die Wechselwirkungen mit anderen Neuronen, und nicht etwa wegen irgendeiner besonderen Beschaffenheit. Der Stilaspekt, den das Modigliani-Neuron erfasst, ist kein Merkmal des Neurons für sich, sondern ergibt sich aus der Kombination einer Vielzahl von neuronalen Wechselwirkungen (bottom up und top down). Zudem ist der Output des Modigliani-Neurons wahrscheinlich selbst rückgekoppelt und beeinflusst diese Wechselwirkungen. Hat sich durch Lernen ein Modigliani-Neuron herausgebildet, so reizt die Betrachtung einer Frau mit langem Gesicht und Hals dieses Neuron und erinnert uns an ein Modigliani-Porträt. In gewissem Sinn sehen wir in dieser Person ein Gemälde von Modigliani, sind uns aber zugleich bewusst, dass wir einen Menschen sehen und kein Gemälde. Die Reizung des Modigliani-Neurons ist nicht nur ein Output, sondern beeinflusst über eine Rückkopplung an unser neuronales System unseren Blick auf die Dinge.
    Auch wenn wir einen Kunststil vielleicht nur schwer definieren können, sind die dazu nötigen neuronalen Mechanismen gar nichts so Besonderes. Sie spiegeln einfach nur, in welcher Vielfalt unsere vertraute Formel wirkt, wenn diverse neuronale Ebenen, Merkmale und Modelle ineinander greifen.
SCHÖPFERISCHES HANDELN
    Stellen wir uns Cézanne bei der Arbeit an einer Leinwand vor. Nachdem er ein paar erste Farbflächen aufgebracht hat, hat er vielleicht das Gefühl, dass die einen seinen Erwartungen entsprechen, andere dagegen nicht ganz stimmen oder auch überraschend wirken. Auf diese Mischung aus Erwartungen und Diskrepanzen dürfte er dann reagieren, indem er weitere Pinselstriche anbringt, nach und nach das Bild aufbaut und zu weiteren Beurteilungen und Vergleichen kommt. Seine Arbeit verläuft damit als kritischer Dialog zwischen ihm und dem, was er vor sich sieht. Vielleicht ist er sich dieses Dialogs teils bewusst, ein Großteil davon spielt sich

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