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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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aber bestimmt unbewusst ab – er fühlt sich vielleicht instinktiv dazu gedrängt, hier oder da noch mehr Farbe anzubringen, oder er merkt, dass ein Pinselstrich gut funktioniert oder nicht ganz stimmt. 112
    Dieser kreative Dialog setzt ein komplexes Wechselspiel zwischen all den Prozessen voraus, denen wir schon begegnet sind – Vorhersagen, Handlungen und Interpretationen. Cézanne mischte und setzte seine Farben nicht einfach per Zufall; auf der Grundlage seiner Erfahrung als Maler machte er Vorhersagen, welche Wirkung sie wahrscheinlich erzielen würden, und dieses Wissen nutzte er zur Steuerung seiner Handlungen. Dann interpretierte er die Farben, die er auf die Leinwand aufgebracht hatte, untersuchte ihr Verhältnis zueinander und verglich sie mit dem Modell, das er gerade malte. Die Übereinstimmungen und Diskrepanzen, auf die er stieß, führten ihn zu weiteren Vorhersagen und Handlungen, und so ging der Prozess immer weiter. Das Gemälde entstand aus einem neuronalen Dialog, der Vorhersagen, Handlungen und Interpretationen auf den verschiedensten Ebenen ineinander verwob. Wenn Cézanne malte, lernte er vielleicht auch noch dazu, veränderte also seine neuronalen Modelle so, dass er beim nächsten Mal etwas anders an ein Gemälde heranging. Am Ende kommt also nicht nur ein Gemälde heraus, sondern ein Fortschritt in Cézannes Wanderung durch den neuronalen Raum.
    Ähnliches gilt für jeden beliebigen schöpferischen Akt. Wenn ein Dichter ein Gedicht verfasst, läuft in seinem Gehirn ein ständiger neuronaler Dialog ab, der um Wortfolgen kreist. Anders als bei der Malerei brauchen wir keine körperlich sichtbaren Handlungen – der Dichter muss ja während des Dichtens nichts laut sagen oder niederschreiben. Wie wir bei den neuronalen Augen gesehen haben, besteht aber zwischen physischen und inneren Handlungen nur eine hauchdünne Grenze. Ein neuronales Auge kann auf die Wahrnehmung dieselbe Auswirkung haben wie eine physische Augenbewegung, denn ersteres beruht auf der inneren Anpassung der neuronalen Aktivität (nämlich darauf, welche Verbindungen funktional sind), während die Augenbewegung offensichtlich eine offene physische Bewegung ist. Der einzige Unterschied zwischen Dichter und Maler besteht darin, dass die Leistung des Dichters rein intern ablaufenkann, ohne unbedingt auf physische Handlungen und ihre sensorischen Auswirkungen Bezug nehmen zu müssen. Das heißt freilich nicht, dass der Dichter in einem sensorischen Vakuum arbeitet. Die Sprache, die der Dichter benutzt, wurde in vorausgegangenen Wechselbeziehungen mit anderen Menschen und mit der Umwelt erlernt. Selbst wenn also ein Gedicht vielleicht in einem stillen, dunklen Raum entstanden ist, baut es auf einer ausführlichen neuronalen Reise auf, auf der der Dichter viele Bezüge zwischen sensorischen Vorhersagen, Handlungen und Interpretationen erlernt hat.
    Das Gleiche gilt für die Kreativität eines Wissenschaftlers. Auch das Hirn des Forschers spielt mit Erwartungen und Diskrepanzen auf der Grundlage von Erlerntem und von Erfahrungen. In diesem Dialog werden manche Diskrepanzen gelöst, was zu neuen Modellen oder Verständnissen führen kann. Und das wieder führt zu bestimmten Handlungen, etwa der Durchführung eines Versuchs, der ein Modell überprüfen soll. Die Versuchsergebnisse werden dann so rückgekoppelt, dass sie die weiteren Schritte der neuronalen Reise beeinflussen, und das Modell wird damit weiter verfeinert. Wie bei Malern und Dichtern läuft ein Großteil der Kreativität unbewusst ab, ohne dass der Forscher sich ihrer vollständig im Klaren ist. Es mag so aussehen, als würde ein Forscher plötzlich zu einer neuen Erkenntnis gelangen, so wie eine Gedichtzeile einem Dichter vielleicht ganz unerwartet einfällt. 113 Darwin berichtet von seinem Glücksgefühl, als er plötzlich erkannte, wie die Vielfalt der Arten mit der Vielfalt der Umwelt zusammenhängt: »Ich kann mich selbst noch der Stelle auf der Straße erinnern, wo mir, während ich in meinem Wagen saß, die Lösung einfiel.« 114 Zweifellos hatte er seit Tagen über diesem Problem gegrübelt, und die Diskrepanzen schossen durch sein Gehirn. Schließlich verursachte das eine Veränderung an seinen neuronalen Modellen, was bestimmte Diskrepanzen so reduzierte, dass er plötzlich im Wagen diese Eingebung hatte.
    Schöpferisches Handeln vom Maler, Dichter und Forscher bis hin zu jemandem, der Blumen in eine Vase ordnet, lässt sich über die Prozesse betrachten,

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