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Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition)

Titel: Die Formel des Lebens: Von der Zelle zur Zivilisation (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Enrico Coen
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Leinwand ein kurzer Lichtstreifen erst dem einen und dann dem anderen Auge gezeigt, so wird dadurch beide Male die gleiche Region auf V1 aktiviert. Eine Verschiebung des Lichtstreifens an eine andere Stelle verschiebt die auf V1 aktivierte Region für beide Augen parallel. Die Verbindungen beider Augen sind auf V1 also verknüpft.
    Auf kleinerem Maßstab identifizierten die beiden Forscher aber zusätzlich noch ein Muster. In einer bestimmten V1-Region beobachteten sie, dass einige Neurone überwiegend auf Licht reagieren, dasdas linke Auge trifft, während andere Neurone stärker auf Licht im rechten Auge reagieren. Die Inputs beider Augen wurden also in gewissem Ausmaß voneinander getrennt gehalten, obwohl sie auf Karten in derselben V1-Region abgebildet waren. Schließlich erkannten die Forscher, dass auf V1 zwei eng ineinander verwobene Karten existieren, eine linke und eine rechte Version. Wie diese V1-Karten beim Makaken zueinander liegen, stellt Abbildung 78 dar. Die schwarzen Regionen zeigen, wo ein Auge, sagen wir das rechte, dominiert; an den weißen Regionen dominiert das andere, hier also das linke Auge. Wir finden also praktisch zwei Kopien der visuellen Karte vor, eine für jedes Auge, die zueinander leicht versetzt sind. Das führt zu einem Flickenteppich aus sich abwechselnden Inputs von links und rechts, den wir als Okulardominanzmuster bezeichnen. Wie entsteht nun dieses Muster?
    (78) Okulardominanzmuster auf dem primären visuellen Cortex eines Makaken.
    Hubel und Wiesel beschlossen zu prüfen, was geschieht, wenn man heranwachsende Tiere an einem oder an beiden Augen der Sicht beraubt. Katzenjunge öffnen ihre Augen zehn bis zwölf Tage nach der Geburt. Damit eine Katze auf einem Auge, sagen wir dem linken, nicht sehen konnte, nähten Hubel und Wiesel in einer kleinen Operation bei einem neugeborenen Kätzchen die linken Augenlider zu, so dass dieses Auge keinerlei visuellen Input erhielt. Wurde das linke Auge wenige Monate später chirurgisch wieder eröffnet, so stellten sie fest, dass das Kätzchen auf diesem Auge dauerhaft erblindet war. Statt auf beide Augen zu reagieren, besaß V1 jetzt nur starke Verbindungen zum rechten Auge, also zu dem, das offen geblieben war. Zunächst gingen die Forscher davon aus, dass die Schwächung der synaptischen Verbindungen beim geschlossenen Auge nur auf die mangelnde Verwendung zurückzuführen war. Um das zu prüfen, wiederholten sie das Experiment, verschlossen diesmal aber nach der Geburt beide Augen; sie erwarteten, dass nun die visuelle Wahrnehmung in beiden Augen schwer gestört sein würde. Zu ihrer Verwunderung aber stellte sich heraus, dass die Verbindungen gar nicht so schlecht waren – als hätte das Zunähen des zweiten Auges dem ersten geholfen. Die Erblindung nach zeitweiliger künstlicher Blindheit war also nicht einfach nur eine Folge mangelnder Nutzung, sondern es bestand irgendwie eine Beziehung zwischen beiden Augen.
    Am besten lässt sich diese Beziehung beschreiben, wenn wir noch einmal zum Okulardominanzmuster von Abbildung 78 zurückkehren. Wird ein Auge chirurgisch verschlossen, so entsteht kein Okulardominanzmuster mit abwechselnden Streifen gleicher Breite, sondern die Streifen des aktiven Auges werden sehr viel breiter. Eine Sorte Streifen, sagen wir die schwarzen in Abbildung 78, verbreitert sich und lässt nur ganz schmale Streifen Weiß übrig, die dem geschlossenen Auge entsprechen. Das heißt, die Katze verfügt über sehr viele Verbindungen zum offenen und relativ wenige Verbindungen zum anderen Auge. Werden beide Augen verschlossen, so gewinnt keines die Oberhand, und zum Schluss entsteht wieder ein gleichmäßiges Streifenmuster für das linke und rechte Auge – wie bei einer normalen Katze. Offenbar beruht die Breite der Streifen auf Wettbewerb zwischen den Augen. Ist ein Auge aktiver, so besetzt es den Raum, der normalerweise die Verbindungen zum anderen Auge ausbilden würde. Sind beide Augen gleich aktiv oder gleich inaktiv, so werden die Verbindungen sehr viel gleichmäßiger verteilt.
    Spätere Computersimulationen ergaben, dass die experimentellen Beobachtungen von Hubel und Wiesel auf ähnliche Mechanismen zurückgeführt werden können wie die, mit denen Alan Turing die Entstehung von Punkt- oder Streifenmustern erklärte (Kapitel 3). 116 Im Fall der Okulardominanz wird Verstärkung und Wettbewerb allerdings nicht nur durch lokalen molekularen Signalaustausch bedingt, sondern durch den Feuerungsgrad der

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